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(S. 126)



5. Praxis der Fachsprachen

5.1 Pragmatische Voraussetzungen

Anknüpfend an Panthers (Panther 1981) Untersuchungen über indirekte Sprechakte (eine der Arbeiten, die Fortschritte in der Fachsprachen-Linguistik nicht fordern, sondern erreicht haben) sowie an das über Anonymisierung S.113 Gesagte, muß bei der Erarbeitung einer pragmatischen Folie für die Fachsprachenpraxis zunächst von einer starken Rollengebundenheit in der Fachkommunikation ausgegangen werden. Gerade für die Wissenschaftssprache konstatiert Panther
 

"Die Sprecher sind im Grunde auswechselbar, jeder (also auch der Sprecher des entsprechenden Sprechaktes) kann, darf, muß etc. die sprachliche Handlung ausführen. Von hier aus ist es nur noch ein Schritt zu dem Schluß, daß der Sprechakt überindividuell gültige Information übermittle" (das. S.238)
Entsprechendes gilt für die Empfänger:
 
"Man findet z. B. den Fall, daß Autoren Forderungen (meist indirekt formuliert) an Forschungsdisziplinen, Theorien, Methoden etc. stellen, obwohl implizit natürlich nur diejenigen gemeint sein (S.  127) können, die diese Forschungsdisziplinen vertreten (...)" (Panther 1981, 240).


Zweifellos birgt diese Rollenbindung die Gefahr negativer strategischer Ausnutzung gegenüber der Öffentlichkeit in Richtung auf objektivierendes Image, "Weißkittel-Gehabe" etc. Andererseits ist das Rollenverständnis vor dem Hintergrund nicht persönlicher, sondern quasi institutionell intendierter Handlungsabläufe (Arbeit) konstitutiv für die Fachkommunikation, wie Sager (Sager 1981, 200) in Abgrenzung zu beziehungsorientierter Sprache feststellt:
 
 

 
Gebrauschssystem
Beziehungssystem
1
Die Mitglieder der F-Gruppebeteiligen sich an der Kommunikation, motiviert durch das Sachproblem. Die Mitglieder der F-Gruppe beteiligen sich an der beteiligen sich an der Kommunikation , motiviert durch die Präsenz eines oder der anderen Teilnehmer.
2
Die Kommunikation kann unabhängig von Motivationund Intention der Mitglieder der der F-Gruppe initiiert sein Die Kommunikation kann nicht unabhängig von Motivation und Intention der Mitglieder der F-Gruppe initiiert sein
3
Die Mitglieder der F-Gruppe sind, abgesehen von ihrer sachlichen Kompetenz, austauschbar. Die Mitglieder der F-Gruppe sind nicht austauschbar
4
Ein Sachthema ist fixiert und wird über eine bestimmte Zeit (bis zur Lösung der Aufgabe/des Problems) beibehalten Es sind keine Sachthemen fixiert
5
Der Kommunikationsverlauf ist rational und argumentativ Der Kommunikationsverlauf  ist sowohl rational als auch emotional und assoziativ
6
Die Kommunikation kann (oder könnte) sinnvoll vertagt werden. Die Kommunikation kann nicht sinnvoll vertagt werden. (S. 128)
7
Notwendigkeit und Bedürfnis (Motivation) zur Kommunikation bestehen nicht mehr nach Lösung der Aufgabe /des Problems Notwendigkeit und Bedürfnis (Motivation) zur Kommunikation bestehen unabhängig von der Lösung von Aufgaben/Problemen

(F-Gruppe = Teilnehmer einer fave-to-face-Kommunikation).
 

Diese Zusammenstellung führt Habermas' (Habermas 1968, 64) frühere ähnlich aufgebaute Tabelle mit stärker pragmatischem Zugriff fort und zeigt, daß die Kommunikationspartner, deren jeweilige Sachkompetenz vorausgesetzt wird und im Selbstbild sowie gegenseitigen Partnerbild inkorporiert ist, ihre Kommunikation auf vier konstitutive Faktoren aufbauen und jeweils neu beziehen:

Institution (organisatorischer Zusammenhang der Tätigkeit),
Rolle in der Arbeitsorganisation,
Sachproblem und
fachliche Methode.
Diese hier pragmatisch gewendeten Grundlagen sind alles andere als neu. Sie wurden in wesentlichen Teilen bereits 1965 von Möhn (Möhn 1965) aus einem eher volkskundlich-soziologischen Ansatz herausdifferenziert. Sie finden sich ebenso, wenn auch sporadisch, wieder in Industriepsychologie und Betriebssoziologie, soweit sich diese nicht ausschließlich mit den - je nach Couleur als disfunktional oder stabilisierend angesehenen sozialen Kommunikationswegen und -bedürfnissen beschäftigen.

Zu den erneut zu diskutierenden pragmatischen Voraussetzungen gehören auch die Implikationen von gesprochener gegenüber geschriebener Kommunikation. Zwar ist der Gegensatz "schriftlich-mündlich" in der Fachsprachendiskussion immer wieder verhandelt worden. Die Pragmatik der beiden Kanäle aus der Sicht der Kommunikationspartner ist dagegen noch nicht systematisch untersucht worden. Wir legen daher eine vorläufige Liste von Eigenschaften beider Textklassen vor, die wenigstens grundlegende Unterschiede benennt. (S. 129)
 
 
 
 

spontan gesprochen
geschrieben
sequentielle Decodierung eingeschränkt beliebige Decodierung
Formulierungsprozeß offen Formulierungsprozeß verdeckt
i. d. R. nicht reproduzierbar reproduzierbar
schwer dokumentierbar  einfach dokumentierbar
geringer Zeitaufwand höherer Zeitaufwand
Metainformation simultan über Prosodie und paralinguistische Kanäle einkanalig, getrennte explizite Metainformation
Produktion und Rezeption zeit-/räumlich gleichphasig Produktion von Rezeption zeit-/räumlich getrennt
faktische Authentizität Authentizität bezweifelbar
illokutionsbetont propositionsbetont
Kreis und Reaktion der Rezipienten kontrollierbar Kreis und Reaktion der Rezeption kaum kontrollierbar 
durch Rezipienten kontrollierbar Autor unkontrollierbar
situationsimplizierend explizit
aktuelle Obligationen anhaltende bzw. explizit begrenzbare Obligationen
 Sozialbeziehung implizierbar Sozialbeziehung ausschaltbar

Besonders in der Organisation von Betriebskommunikation werden die pragmatischen Eigenschaften der beiden Realisierungstypen systematisch eingesetzt. Die Typen "Mitarbeitergespräch" (Neuberger 1973), "Presseerklärung" (z.B. über ein neues Produkt), "Prüfungsprotokoll" (Pelka 1971, 40) etwa zeigen, daß mündlich/schriftliche Realisierungen nicht beliebig austauschbar sind oder nur als Vorstufen zueinander verstanden werden dürfen.
 


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