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4. Eigenschaften von Fachsprachen

4.1 Wortschatz

 

4.1.1 Struktur und Benutzung


4.1.1 .1 Elemente

Betrachten wir zunächst fachsprachliche Texte als aus strukturell verschiedenen Zeichen zusammengesetzte sprachliche Äußerungen, so müssen wenigstens die folgenden Zeichenklassen unterschieden werden:


 

Abb. 10. Fachsprachliche Zeichenklassen
 

(S. 84) Die Forschung hat sich bislang vorwiegend mit natürlichsprachlichen Wörtern und Namen befaßt, während die anderen Zeichenklassen als Elemente von Fachtexten recht wenig untersucht wurden. Ungeklärt ist neben dem Einbettungsverhältnis der Klassen untereinander in komplexen Ausdrücken vor allem die genaue semantische Beziehung der Ausdrücke verschiedener "Sprachen" zueinander. Das erste ist mehr ein formal-syntaktisches Problem der einbettenden Sprache (Wörter zwischen Zahlen, Zahlen in Wörtern, Bilder zwischen Wörtern, Texte in Grafiken etc.), das zweite betrifft z. B. die Äquivalenz-Relation, die in der Spezialform der Definition eine entscheidende Rolle für Fachsprachen spielt.

Auf der lexikologischen Ebene von Interesse sind dabei vor allem Schwierigkeiten, die sich aus dem unterschiedlich großen Inventar der Zeichenklassen ergeben, sowie aus der unterschiedlichen Morphologie, also der Zeichen-Komplex-Bildung unterhalb der eigentlichen Syntax. So spielt etwa das Prinzip der Stelligkeit von Zahlen, z T. auch in Formeln, bei Wörtern oder Grafiken keine Rolle. Die räumliche Anordnung ist entscheidend für Zahlen, Formeln und Grafiken, während bei Wörtern allenfalls durch Senkrecht-Anordnung von der strengen Links-rechts-Regel abgewichen werden darf. Bei chemischen Strukturformeln ist die Anordnung in einer Isomorphie begründet und kann physikalisch begründet werden. Bei der natürlichen Schrift ist die Richtung Abmachungssache, bei Grafiken gibt es eine intuitive sehr implizite Richtungssemantik (Daucher 1967), die aber nirgends verbalisiert wird. Arithmetische Operationen lassen sich mit Grafiken formal nicht durchführen (abgesehen vom Sonderfall der vollständig graphentheoretisch interpretierbaren Grafiken). Bilder sind nicht in derselben Weise segmentierbar wie Sätze zu Wörtern oder Grafiken zu Linien und Knoten. Während Bilder und Grafiken sprachlich einem Text zugeordnet werden ("Abbildung 5", "Ansicht von rechts oben"), werden Wörter nicht durch Grafiken "deklariert" (als Gegenbeispiel können vielleicht Sprechblasen bei Comics gelten).

Dies mag als semiotischer Streifzug durch Fachtexte genügen, um zu zelgen, wie wenig schon auf der Ebene der Lexikologie bei Fachsprachen bekannt ist und wie stark schon hier der klassische natürlichsprachliche und wortorientierte Ansatz relativiert werden (S. 85) muß, wenn etwa der Prozeß des Decodierens und Verstehens fachsprachlicher Texte untersucht werden soll.

Der eigentliche natürlichsprachliche fachliche Wortschatz ( Wörter, Namen) ist allerdings mit Recht immer als wesentliches Mittel von Fachsprache angesehen worden. Wohl auch deshalb, weil er neben der strukturierten Verwendung schon als Wortschatz stark strukturiert ist.

Zwei Begriffe von Wortschatz interferieren häuflg in der Fachsprachenlinguistik: Wortschatz als Liste der Wörter eines gegebenen oder fiktiven Texts und Fachwortschatz als Menge der für dieses Fach spezifischen, gegenüber der Gemeinsprache exklusiven Wörter. In einer nichtlinguistischen Redeweise wird letzteres häufig als "Terminologie" bezeichnet (vgl. weiter unten).

Aus einem pragmatisch orientierten Fachsprachenverständnis, wie wir es hier vorlegen, ist ein konsistentes Verhandeln von exklusivem Wortschatz kaum möglich, dennoch seien in diesem Kapitel, unter Einschluß von Phänomenen wie der fachsprachlichen Umdefinition gemeinsprachlicher (d. h. vorfachlicher) Wörter, vorwiegend exklusive Beispiele aufgeführt und auf eine Behandlung nichtexklusiver Textelemente (und, also, der, etc.) wegen geringeren Erkennmiswerts verzichtet. Der gesamte sprachliche und damit auch lexikologische Zusammenhang wird dann wieder in Abschnitt 4.1.1.3 einbezogen.

Viele Fachgebiete haben in der Tat eine feste Terminologie, von der auch dem Nicht-Fachmann klar ist, daß sie nicht bloß aus einer ungeordneten Menge von (exklusiven) Fachwörtern besteht. Vielmehr bildet eine Terminologie (im engeren Sinne des Wortes, also nicht nur gleichbedeutend mit "Fachwort") eine begriffliche Ordnung meist mit hierarchischer Gliederung sprachlich ab. So systematisiert Schnegelsberg (Schnegelsberg 1977, 48) im Bereich Textilwesen den Sachverhalt Leerstellen im Gewebe begrifflich in folgender Weise:  (S. 86)
 
 

An die Enden dieser an einem bestimmten Aspekt des Sachverhalts orientierten begrifflichen Systematik lassen sich nun die Termini (v.l.n.r.) Lakune, Loch, Lücke und Lunker anhängen.

Das Beispiel macht deutlich, daß der fachsprachliche Gebrauchswert eines dieser Wörter von der dahinterstehenden Sachsystematik abhängt und daß Loch nur fachsprachlich (in diesem Fachzusammenhang) benutzt wird, wenn darunter eben nicht Lücke Lakune, Lunker, oder etwas nicht Textilspezifisches verstanden wird. Ist in vielen anderen Sachgebieten auch die Systematik nicht so streng, so ist doch für jede Terminologie (auch "Terminologisches System") dieser Begriffszusammenhang konstitutiv (L. Hoffmann 1976, 302 ff.). Der sprachliche und fachkommunikativ günstige Fall liegt.dann vor, wenn die Terminologie sprachlich die Systematik genau abbildet. Im Deutschen stehen dafür Wortzusammensetzungsregeln zur Verfügung, die erlauben, einen Teil der definitorischen "Leiter" durch mehrfach verschachtelte Grund- und Bestimmungswörter darzustellen. Meist entspricht dabei stufenweise das Grundwort dem genus proximum und dem Bestimmungswort die differentia specifica:
 
 

Dieses Wort benennt die Objektklasse zusammen mit zweistufigen einschränkenden Merkmalen. (S. 87)

Eine ähnliche, wenn auch weniger strenge Strukturierung von Wortschätzen wird durch eine Nomenklatur vorgenommen. Nomenklaturen sind möglichst vollständige Benennungen des Objektbereichs einer (Natur-)Wissenschaft, wobei zwischen den Objekten keine vollständig definierte, vor allem keine systematische oder hierarchische Beziehung bestehen muß, sondern das Vorhandensein eines beschreibbaren Unterschieds ausreicht (L.Hoffmann 1976, 307). Nomenklaturen bestehen z.B. in der Medizin, der Biologie und der Chernie. Entsprechend der Betonung der Überdeckung eines möglichst großen Gegenstandsbereichs und der Vernachlässigung des Systemgedankens werden in Nomenklaturen seltener kontingente Gruppen von Determinativkomposita mit gleichen Grundwörtern benutzt als in Terminologien (i. e. S.).

Im Überdeckungsgedanken und der damit gegebenen Interdependenz der Wortschatzeinheiten erkennt man typische Wortfeldprinzipien. Daher ist der Wortfeldbegriff (Hoberg 1973) als "terminologisches Feld" wiederholt in der Fachsprachentheorie angewendet worden.

Ist bisher der Fachwortschatz als linguistisches Objekt eher im Blick auf seine exklusiven Elemente und korpuslinguistisch (Auburger 1981, 90) betrachtet worden, so sind gerade bei der Untersuchung von realer Fachkommunikation drei eher prozedurale Aspekte von Fachwortschätzen eine etwas eingehendere Untersuchung wert:
 

(1) Wie werden Fachwortschätze erweitert?
(2) Wie werden Fachwortschätze benutzt?
(3) Wie werden Fachwortschätze verstanden?

 


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