zum vorigen Textabschnitt
 
4.1.1.2 Aufbau und Erweiterung

Die Erweiterung von Fachwortschätzen, d.h. die Prägung von Fachwörtern ist eine Notwendigkeit in allen wissenschaftlich und technisch innovativen Tätigkeitsfeldern. Dabei dürfte die angewendete Auswahl aus den genannten Benennungsstrategien sehr eng mit den situativen Bedingungen der jeweiligen Forschungs- bzw. Entwicklungssituation zusammenhängen.

Totale Neuschöpfungen sind in Fachsprachen extrem selten. Auch das berühmte Beispiel Gas, das von J. B. Helmont (1579-1644) (S. 88) geschaffen wurde, ist an gr. Chaos angelehnt. Neue Lexikoneinheiten werden eher als irgendwie motivierte Benennungen kreiert. Oft besteht die benennungspragmatische Aufgabe darin, wenigstens minimale mnemotechnische Anhaltspunkte zu geben, die bei einer totalen Neuschöpfung, wie auch bei nichtfachlicher Motivierung (vgl. die Entstehungsgeschichte der Quarks) entfallen. Andererseits aber muß die allzu große Nähe zu im Fach bekannten oder nichtfachlichen Wörtern wegen der Verwechslungsgefahr bzw. wegen unzulässiger nichtfachlicher Assoziationen vermieden werden. Es werden am häufigsten die folgenden Erweiterungsstrategien im fachlichen Zusammenhang angewendet:

 
- Neologismen Illokution
- Übersetzung, (verteilte Wicklung)
            Nachildung
- Ableitungen (Textoid)
- Zusammensetzungen, (Einschreibenkupplung)
            Mehrwortlexem (lombardischer Vorschlag)
- Metapher (Dämon)
- Umdefinition (Kraft)


Nun stehen beim Benennungsprozeß nicht alle diese Darstellungsmittel zur freien Verfügung. Vielmehr ist die Wahl der sprachlichen Mittel wohl weitgehend eine Folge der Benennungsstituation:

Wird z. B. die Entwicklung einer spezifischen technischen Problemlösung (schnelle und billige Herstellung von Verdrahtungen bzw. Schaltungen) angestrebt, so liegt es nahe, die Lösung nach dem entscheidenden verfahrenstechnischen Detail (gedruckte Schal tung) zu benennen (Zu Mehrworttermini vgl. L. Hoffmann 1976, 323 f.) und nicht etwa mit Silf.

Wenn dagegen in der Grundlagenforschung Entdeckungen benannt werden müssen, dann kann ein Phantasie-Name näher liegen.

Greift man zum (im Deutschen sehr flexiblen) Mittel der Wortzusammensetzung, so ergeben sich für den systematischen Aufbau einer Terminologie gewisse Schwierigkeiten:

Aus der allgemeinen Literatur über Zusammensetzungen (Fleischer 1975) ist bekannt, daß das semantische Verhältnis zwischen (S. 89) Grundwort und Bestimmungswort determinativ oder kopulativ sein kann:

Informationswirtschaft (det.)
Spritzgießen (kop.)
Die von Fleischer angeführte Schwierigkeit der Beschreibung einer überschaubaren Klasse von "semantischen" Beziehungen zwischen den Komponenten stellt sich bei den Fachterminologien besonders deutlich: Es ist kaum erfolgversprechend, bei den Zusammensetzungen selbst in einer Terminologie und bei Beschränkung auf nur ein Grundwort nach einer geschlossenen Klasse von systematischen Beziehungen zwischen den Bestimmungswörtern zu suchen. Bei einigen technischen Wortschätzen hat man noch einigermaßen Erfolg durch Angabe von Dimensionen. So ist die im Bestimmungswort gegebene Spezifizierung nach: Form (Pelka 1971, 160ff.)
Lage
Herkunft
Funktion
Eigenschaften
Teil-von-Beziehung
dort die gängigste Methode. Allerdings wird bei Einzeluntersuchungen bald offenbar, daß sogar die Unterscheidung in determinativ/kopulativ häufig eine etwas künstliche linguistische ist und nicht der fachlichen Intention der Terminologie entsprechen muß:

Mitnehmergabel kann zwar linguistisch als Determinativkompositum klassifiziert werden, dadurch daß man eine Relativsatzparaphrase mit dem Grundwort Gabel bildet (Eine Gabel, die als Mitnehmer funktioniert), aber fachlich gesehen ist die Beziehung gerade umgekehrt: Der Mitnehmer hat Gabelform. Mitnehmergabel ist eine Art Mitnehmer.

Die direkte sprachliche Einführung eines in einer anderen Sprache bereits benannten Vcrfahrens oder Objekts kann vollzogen werden durch eine morphologische Angleichung, Übersetzung oder wörtliche Nachbildung.

In bestimmten Fachgebieten (Medizin, Geisteswissenschaften) ist die Bildung von Fachwörtern aus lateinischem oder griechischem (S. 90) Material üblich (Neologismus), und daher wird man aus Gründen der fachlichen Seriosität solche Mittel wählen: Eine linguistische Schrift, die einen bestimmtcn Sachverhalt Synpleremik nennt, kann auf mehr Beachtung hoffen, als wenn sie ihn, nehmen wir wieder das obige Beispiel, Silf nennt. Da sich die Ableitungs- und Zusammensetzungsgewohnheiten auch nach der üblichen Struktur des Wortschatzes in einem Fach richten, ist es also auch sinnvoll, eine gewisse strukturelle Homogenität zu erhalten. So wäre etwa innerhalb der Linguistik eine terminologische Differenzierung nach dem Muster Syntex, Syntox, Syntax, die in Medizin und Chemie häufig angwendet wird, nicht üblich und würde Leser verwirren.

Von Einfluß ist dabei auch zweifellos der Grad der Formalität der benennenden Institution. In einer universitären Forschungseinrichtung werden in der Regel andere Grundsätze der Benennung angewendet als in einer industriellen Forschungs- und Entwicklungsabteilung. In ersterer werden z. B. auch eher Metaphern benutzt als unter produktnäheren Bedingungen. So sind z. B. aus der amerikanischen Informatik und kognitiven Psychologie (seit Selfridge 1970) eine größere Zahl von sehr anschaulichen Metaphern für sehr abstrakte (Programmier-)Techniken übernomen worden: Dämonen sind Prozeduren, deren Aufruf durch das Auftreten einer charakteristischen Konstellation im Programmablauf ausgelöst wird, so daß sie immer auf eine Aktion "lauern".

Ein gutes Beispiel ist der folgende Text, der auch gemeinsprachlich "gegen den Strich" gelesen werden kann, wenn auch mit ganz skurrilem Verständnis:

" Wie Aquist gehen wir von Mengen W von möglichen Welten aus, welche die Äste eines Baumes darstellen. Diese Äste sollen aus Gründen der Einfachheit alle gleichlang sein, und sie sollen Folgen von Weltmomenten i aus einer Menge I sein, so daß jedem Zeitpunkt t = O, 1, 2, . . . in jeder Welt w EW ein Weltmoment w (t) = i entspricht, der den Zustand der Welt in t darstellt. Wir verwenden also einen diskreten Zeitbegriff" (Kutschera 1980, 70).

Wieder anders wird die Benennung eines Sachverhalts aussehen, wenn das Forschungsziel in der genaueren Erkenntnis einer lange bekannten Sache besteht, also eine vorwissenschaftliche Benennung vorliegt, diese dann aber durch Forschung präzisierend (S. 91) definiert wird. Dabei wird (z. B. für Information) der Fachwortcharakter durch die wissenschaftliche Definition hergestellt und durch eine terminologische Umgebung untermauert. So bucht ein fachlich einschlägiges, maßgebendes Grundlagenbuch (Meyer-Eppler, W., Grundlagen und Anwendungen der Informationstheorie 2.Aufl. 1966) ein terminologisches System von rund 40 Zusammensetzungen und Ableitungen sowie rund 30 Mehrwortlexemen mit -Information-. Dieses Beispiel zeigt nicht nur die Technik der Neufassung eines vorwissenschaftlichen Begriffs (das gilt noch viel deutlicher für Fachwörter wie Kraft, Dichte, bei denen die Fachsprachlichkeit in mehreren historischen Schichten verlief), sondern darüber hinaus die Tatsache, daß Fachwörter selten einzeln geschaffen werden, sondern oft ein ganzer "Satz" zur terminologischen Beweglichkeit in einem neuen Sachverhalt aufgebaut wird.

Eine interessante Variante sind die Benennungen nach Personen (vgl. VDI-Richtlinie 2278 v. Januar 1976):
 

Keplersche Gesetze
Moniereisen
Dopplereffekt
Petrinetz


Sicht man einmal ab von bewußten wissenschaftlichen Würdigungen (Hertz, Torr oder andere Einheiten), so steht dahinter wohl die pragmatische Erfahrung, daß man im technischwissenschaftlichen Bereich neue Sachverhalte häufig unter Bedingungen lernt, unter denen die personbezogene Herkunft noch eine Rolle spielt: Konferenzvortrag, Beitrag in einem wissenschaftlichen Publikationsorgan, persönliches Patent, Forschungsbericht, Reisebericht. Besonders in Medizin, Mathematik, Physik und Chemie werden diese Benennungstechniken angewendet.
 
 


     zum nächsten Textabschnitt


     zur Inhaltsübersicht