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Hier stoßen wir auf ein ganz entscheidendes Faktum für die Beurteilung von Exaktheit in Fachsprachen: Vagheit ist zu umgehen durch spezifizierte Kontexte, also z. B. Situationen. Ist etwa im Null-Kontext billig ein vager Ausdruck, so setzt eine Situationseinbettung der Art: "gesprochen angesichts der Modellpalette einer Lastwagenfabrik" bestimmte Prototypen. Dies sind solche "Elemente einer sprachlichen Kategorie, mit denen andere Elemente verglichen werden, um die Kategorienzugehörigkeit festzustellen. Als Prototypen fungieren die treffendsten Beispiele einer Kategorie" (Wahlster 1977, 3S). Es zeigt sich, daß die Ausdrucksweise Das ist aber schlecht hier in einem eindeutigen Situationszusammenhang daher dieselbe Exaktheit im hier diskutierten Sinne hat wie der folgende Ausdruck mit einer expliziten Mitlieferung von kontextueller Vereindeutigungsinformation:

Die uns am 6. 10. von Fa. Schulz vorgelegte Kalkulation über die Bauvorhaben im Los 7 ist gegenüber Konkurrenzangeboten, was Preis und Ausführungstermine angeht, ungünstiger.  (S. 103)

Das eben zitierte Beispiel zeigt auch eine Eigenschaft, die relative Ausdrücke meist haben, daß sie nämlich nicht eindimensional, d. h. , z. B. auf einer Skala abzutragen sind wie das etwa noch bei schwer der Fall ist, das man als objektklassenspezifischen Bereich einer Gramm-Skala verstehen kann. Ungünstig ist, wie Pinkals durchaus auch fachsprachlich zu verstehendes Beispiel begabt , mehrdimensional und muß auch in Hinsicht auf die Dimensionen spezifiziert werden (Preis, Termin).

Auch die Gruppe der "inexakten" Ausdrücke (nach Pinkal) sowie der "randbereichsunscharfen" verändert ihre Vagheit unter Kontextbedingungen.

Dachse erreichen eine Kopf-Rumpf-Länge bis 85 cm

Die Maßangabe geht nicht genau auf das größte empirische Meßergebnis zurück, ebenso wie der Ausdruck hier über sein punktuell bestes Zutreffen z. B. für das Lot unter dem Körperschwerpunkt des Sprechers hinaus noch einen zutreffenden Randbereich hat. Solche Ausdrucke werden besonders in Fachsprachen bei beschreibenden Texten in Verbindung mit Modifikatoren (linguistischen Hecken) benutzt:

Die Schicht zerfällt bei diesem Prozeß nahezu vollständig in fast exakt rechteckige Partikel

In der Medizin etwa werden bei zweifellos fachsprachlichen Krankheitsbeschreibungen randbereichsunscharfe Ortsangaben verwendet:

...kommt es zu einer auffälligen Rötung am Hals, . . .

Auch solche Ausdrücke können bei vorhandener oder explizit aufgeführter Situation mit den entsprechenden pragmatischen (z.B. diagnosepraktischen) Spezifikationen so bestimmt sein, daß die Fachkommunikation ungefährdet ist.

Das Exaktheitsproblem liegt viel einfacher bei allen Fällen von Mehrdeutigkeit, die bezeichnenderweise in der Exaktheitsdiskussion bisher fast ausschließlich als Beispiel herangezogen wurden.

"Ein semantisch unbestimmter Ausdruck ist mehrdeutig, wenn seine Verwendung (in der Regel) zu kommunikativer (S. 104) Unterbestimmtheit führt, falls er nicht durch Situatlon, sprachlichen Kontext oder explizite Erläuterung präzisiert wird" (Pinkal 1980, 10)

Demgegenüber konnten die bisher aufgeführten Beispiele von Vagheit unpräzisiert oder unvollständig präzisiert verwendet werden, ohne daß es zu kommunikativer Unterbestimmtheit kommt (Pinkal 1980, 4). Der Hörer steht hier also immer vor der Wahl einer (eindeutigen) Alternative. Die bekanntesten Fälle sind:
 

- Homonymie -
- Polysemie
- syntaktische Ambiguität
- referentielle Vieldeutigkeit
- elliptische Vieldeutigkeit
- Metaphorik (s. das 7fache "Frosch"-Beispiel in der VDIRichtlinie 3772)


Diese Fälle von Mehrdeutigkeit sind aber nur unter zwei Kontextbedingungen wirklich gravierend: 1. wenn die Mehrdeutigkeit innerhalb eines Fachgebiets auftritt und 2. wenn die Kommunikationsform so abstrakt ist, daß keine Vereindeutigung aus Situation, sprachlicher Umgebung oder aus Erläuterungen möglich ist. Dieser Fall ist in fataler Weise für "Beispielsätze" gegeben. Der Satz:

Früher wurde der Frosch nur zwischen den Haaren und der Stange eingeklemmt

ist nur im Nullkontext linguistischer Beispiele unverständlich. Wenn wir ihn lesen in einem Buch rnit dem Titel "Geschichte des Geigenbaus" ist er selbst ohne weiteren sprachlichen Kontext eindeutig. Mit anderen Worten: Wirklich von Interesse und ernsthafter Normungsbemühungen würdig sind nur Fälle, in denen es innerhalb eines Fachs unter normalen, ggf. auch unter den in der Fachpraxis vorkommenden ungünstigsten Kontextbedingungen, nicht zu kommunikativer Wohlbestimmtheit kommt. Seriöse Anwendungsbeispiele beschreibt etwa Häfele (Häfele 1977).

Einen Vagheitsfall wollen wir hier ganz aus der Diskussion ausschließen, den der epistemischen Unbestimmtheit, der sich aus wissenschaftstheoretischen Überlegungen ergibt (z. B. hermeneutische Zirkel) oder aus prinzipiellen Unterscheidbarkeitsgrenzen etwa in der Theorie der modernen Physik. Solche Fälle hier zu besprechen ist ebenso unnötig wie fachsprachliche Vagheit aufgrund (S. 105) fehlender Information zur Verifizierung einer Aussage (In der fraglichen Zone leben noch 14793 Käfer dieser Gettung).

Zur ganzen Vagheitsproblematik, speziell zur Einschätzung von Vagheitsphänomenen in der Sprachwirklichkeit muß betont werden, daß ganz selten Vagheit bei Ausdrücken nur durch ein einziges Vagheitszeichen vorkommt:

"Hinzu kommt, daß Äußerungskontext und explizite Modifikation nicht nur in der Lage sind, die Denotate vager Ausdrücke graduell zu präzisieren oder zu depräzisieren; sie können sie auch strukturell verändern, so daß ein Ausdruck in verschiedener Umgebung möglicherweise verschiedene Typen von Vagheit repräsentiert" (Pinkal 1980, 13).

Dieser erneute Hinweis auf die Kontexte sowie die systematische Teilung in semantische Unbestimmtheit und kommunikative Unterbestimmtheit zeigen, daß auch in der Fachsprachenforschung, speziell bei der Abgrenzung der Exaktheit gegenüber der Gemeinsprache, der Kontextbegriff konstitutiv bleiben muß. Von der Exaktheit der Fachsprache zu reden, ist recht unergiebig.

Situations- und Kontext- spezifische Exaktheitsüberlegungen können dann dazu führen, daß unter den spezifikationsarmen Bedingungen z. B. wissenschaftlicher Literatur erhöhter Aufwand in die Abstraktion der Aussagen von vereindeutigenden Kontexten gesteckt werden muß. In diesem Sinne ist dann z.B. ein theoriesprachlicher Text in einem Lehrbuch nur erheblich expliziter, indem er wegen nicht vorhersehbarer Lesesituation und Unüberschaubarkeit der Schreibsituation für den Leser, alle Mißverständnisse und Voraussetzungen ausdrücklich regelt. Demgegenüber ist eine umgangssprachliche Unterhaltung über ein gemeinsames Erlebnis genauso kommunikativ wohlbestimmt selbst unter Verwendung von semantisch hochgradig unbestimmten Ausdrücken.

Ein weiteres Argument für eine solche differenzierte Sicht des Exaktheitsproblems nach Vagheitstypen und Kontextbedingungen bilden die situationsabhängigen Kürzungen von Terminologie (s. S. 92).

Wir haben an dieser Stelle einmal bewußt die sich nahezu allen Normierungen und Definitionen strukturell entziehenden Vagheiten (S.106) durchgesprochen ohne auf die fachtypischen Vereindeutigungstechniken in gleicher Breite einzugehen. Erstens ist über das letztere viel publiziert worden, zweitens scheint in genau dieser Literatur häufig kaum bewußt zu sein, gegen welche Art(en) von Ungenauigkeit nun genau mit fachsprachlichen Mitteln vorgegangen werden soll.


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