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4.1.2 Vagheit und Exaktheit

Die Diskussion über den Situationsbezug von Fachsprachen (z. B. schon früh in den Schriften von Möhn) einerseits und die Vagheit natürlicher Sprachen andererseits (neuerlich Wolski 1980 und Pinkal 1980/81) hat dazu geführt, daß man die einfache Zuordnung "Gemeinsprache = vage, Fachsprache = präzis" zumindest infrage gestellt hat (z.B. Burghardt 1977). Wenn man daneben noch wissenschaftstheoretische Überlegungen über Idealisierung und Generalisierung anstellt und die sprachphilosophische Literatur zu Idealsprachen in der Nachfolge Carnaps berücksichtigt, könnte man versucht sein, die Exaktheitsargumente der Fachsprachenliteratur geradezu auf den Kopf zu stellen: Nicht die einfachen Probleme der direkten Lebenspraxis sind es, die nur einer vagen und unvollkommenen Sprache bedürfen im Gegensatz zu der präzisen Sprache der Fächer für die hochkomplizierten technisch- wissenschaftlichen Sachverhalte. Gerade umgekehrt können wir mit den hochkomplexen Sachverhalten der Lebenswirklichkeit (z. B. dem Wert einer Sozialbeziehung) nur mit vagen Ausdrücken umgehen, während wir uns durch den Aspektcharakter und die Vereinfachungstendenzen jeder Wissenschaft eine ärmere Fachsprache (speziell genormte Terminologie) leisten können. Ganz in diesem Sinne formuliert Zadeh (Zadeh 1973, 28 zitiert nach Wahlster 1977, 55) das Inkompatibilitätsprinzip

P ~ K-1,
durch das die erreichbare Präzision der Beschreibung P in eine Beziehung zur Komplexität K des zu beschreibenden Systems gesetzt wird. Er konstatiert dabei, daß ab einem gewissen Schwellwert sich Präzision und Relevanz der Beschreibung gegenseitig ausschließen. Pinkal (Pinkal 1980, 4f.) bringt einleuchtende Beispiele dafür, daß exakte Ausdrücke der Art

Die Umrüstung kostet mehr als 7000,- DM (wir verwenden eine fachsprachliche Variante zu Pinkals Beispielen)

eine weniger "präzise" Kommunikation erlauben als vage Ausdrücke wie

Die Umrüstung kostet etwas mehr als 7000,- DM.

Möhn (Möhn 1968, 345 f.) hat bei der Untersuchung der Benutzung von Abtönungspartikeln in Fachsprachen gerade jene Gruppe (S. 99) von Wörtern beschrieben, die besonders die Aufmerksamkeit der Vagheitsdiskussion erregt haben.

Die Konsequenz aus diesem knappen Überblick ist, daß die undifferenzierte Rede von der generellen Exaktheit der Fachsprachen unrichtig ist. Das ist eigentlich auch in der reflektierten Fachpraxis klar:

"Ich setze bei alledem selbstverständlich nicht voraus, daß Wissenschaftler immer und überall unter Verwendung strikter Theoriesprachen kommunizieren sollten oder daß die erfolgreiche wissenschaftliche Kommunikation bei jeder Verwendung eines Terminus dessen erschöpfende Explikation verlange oder daß metaphorisches Reden nicht sowohl Ausdruck produktiver Einfälle sein als diese auch sogar provozieren könne" (Hermann 1982, 8).

Nach Pinkal ist mangelnde Genauigkeit einer Mitteilung grundsätzlich in drei Hinsichten zu beurteilen: Es kann semantische Unbestimmtheit (grob gesprochen in bezug auf den Wahrheitswert) vorliegen, es kann die illokutive Rolle unklar sein oder ein Ausdruck kann kommunikativ unterbestimmt sein, nämlich dann, wenn er im Blick auf den Hörer und die Situation zu wenig informativ ist.

Exaktheit in der Fachkommunikation muß natürlich gesichert sein durch kommunikative Wohlbestimmtheit, gleichgültig ob sie durch präzise oder vage Ausdrücke im Sinne semantischer Unbestimmtheit hergestellt wird. Wohlbestimmt, fachsprachlich effizient, aber vage ist z. B. der Ausdruck:

Komplexere Sachverhalte, speziell ProzeßabläufeJ lassen sich durch einfache Graphen nicht mehr ohne weiteres darstellen, hier bieten z. B. Petri-Netze eine geeignete Methode.

Demgegenüber ist der präzise Ausdruck:

Die beiden Sätze A und B stehen in einer logischen Beziehung zueinander

keine kommunikativ adäquate Antwort auf die Frage, ob B eine Begründung für A ist, er stellt nur fest, daß der Ausdruck eine Begründung sein kann. (S. 100)

Fälle von indeterminierter illokuover Rolle treten in Fachsprachen tatsächlich selten auf. Ihre Klärung gehört grundsäezlich zur Präzision von fachsprachlichen Texten. Meist wird durch performative Einschachtelung von Texten, d.h. illokuove Deklarierungen (vgl. S. 123), Eindeutigkeit über Voraussetzungen, Folgerungen, Obligationen etc. hergestellt:

Ein Lehrbuck für Studium und Selbstunterricht

Informationsblatt des Verbandes für. . .

Dies ist ein dienstlicher Befehl

Lexikalisch am wichtigsten ist demnach die Gruppe der semantisch unbestirnmten Ausdrücke, die Pinkal in der folgenden Weise weiter unterteilt:
 
 
 
 


Abb. 12. Arten der Vagheit



Als Ausdrücke, denen Vagheit (i. e. S.) zugeschrieben werden kann, gelten in erster Linie solche, "deren ontologisches Korrelat unsicher ist oder vielleicht einfach zu komplex, um in irgendeiner bisher entwickelten Semantiktheorie dargestellt werden zu können..." (Pinkal 1981,13). Hierhin gehören Begrifflichkeiten wie "befreien´, "Beziehung" etc. Sie sind typische Ansatzpunkte (S. 101) wissenschaftlicher Untersuchungen gerade wegen der ontologischen Vagheit. Der Wissenschaftsprozeß verfährt dann meist so, daß von einem "vorwissenschaftlichen" Begriff der "Beziehung" ausgegangen wird und dieser dadurch "präzisiert" wird, daß präzise beschreibbare Aspekte des gesamten Spektrums von "Beziehung´ herausgegriffen und objektiviert werden. So entsteht ein Terminus "Beziehung" im engeren Sinne, der vom Wissenschaftler meist in der Weise eingeführt wird, daß der Terminus dann nur an die beschriebenen Aspekte gebunden wird. In manchen Fallen wird dann ein neuer vorwissenschaftlicher Ausdruck zur Bezeichnung des gesamten Problemfeldes benutzt. Genau dieses Verfahren wendet etwa Pinkal an, indem er an Alltagserfahrungen anknüpfend Vagheit vorterminologisch (teils in Anführungszeichen) benutzt, dann (vgl. das Schema S.100) "Vagheit" nur für einen Teil des Gesamtproblems in Anspruch nimmt, diesen mit "Vagheit (i.e.S.)" bezeichnet (das "i.e.S." entfällt dann nach einer Einführungsperiode), und die umgangsprachlich eingeführte "Vagheit" später als "Unbestimmtheit´, "inexakte, unscharfe Ausdrücke" oder"Vagheitsbereich" führt.

Im eben skizzierten Sinne sind also Fachtermini dann tatsächlich exakt(er). Nur darf nicht übersehen werden, daß der Terminus dann auch semantisch enger ist und in seiner Bezeichnungskraft gegenüber erlebter Wirklichkeit schwächer.

Der Begriff der semantischen Porosität wurde geprägt für solche Fälle, in denen die Wahrheit eines Prädikats nur für faktisch relevante (oft heißt das: bekannte) Dimensionen spezifiziert ist. Pinkal selbst bringt ein Beispiel, das unbedingt fachsprachliche Gültigkeit beanspruchen kann:

"Ist eine Substanz, die in allen chemischen und physikalischen Eigenschaften rnit Gold übereinstimmt, dazu aber eine unbekannte Strahlung emittiert, Gold?" (Pinkal 1981, 14).

Für Forschung und Entwicklung ist die Situation durchaus häufig, daß Objekte entdeckt oder Verfahren entwickelt werden, für die zunächst der Gattungsbegriff klar zu sein scheint. Es treten dann aber unbekannte Eigenschaften auf, für die in der bisherigen Definition "kein Platz" ist, weil die ganze Dimension solcher Eigenschaften nicht auf ihr Zutreffen hin geprüft wurde. So sind (S. 102) z. B. Drachenflieger nicht auf die Dimension Motorleistung, also PS spezifiziert und, sobald man Versuche mit motorisierten Geräten machte, wurde der Terminus Drachenflieger porös.

Im Zusammenhang der Porosität weist Pinkal auf kontrafaktische Konditionale hin, die in der Wissenschah als Forschungsmotivation immer eine heuristische Rolle gespielt haben. Gerade die systematische Untersuchung von als logisch rnöglich erkannten aber faktisch für irrelevant gehaltenen Spezialfällen hat zu überraschenden Erkermtnissen geführt. "Ansonsten ist es (das Phänomen der Porosität, v. H.) hauptsächlich im Zusammenhang mit idealsprachlichen Konzeptionen von Bedeutung (...): absolute Vollständigkeit bei der definitorischen Präzisierung von Begriffen ist weder möglich noch wünschenswert" (Pinkal 1980, 15).

Eine andere Form der semantischen Vagheit ist als Relativität bekannt. Es sind nicht nur die Gradadjektive wie schwer, schnell usw. oder Quantifizierungen wie wenige und manche, die in ihrer Exaktheit relativ sind, sondern sogar All- und Existenzquantoren wie jeder und ein lassen eine Präzisierung ihres Geltungsbereichs nur unter außerordentlich präzisierten Situationsbedingungen zu.


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