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(S. 94)






4.1.1.4 Verstehen

Über den dritten Bereich von fachwortbezogenen Prozessen, das Verstehen von Fachwörtern, ist am wenigsten bekannt. Hierher gehören Probleme der Wissensakquisition, speziell des Erwerbs von Fachtermini, verbunden mit Prozessen der sprachlichen Verstehenssicherung und von Rückfragetechniken. Unter dem hier betonten prozeduralen Aspekt klammern wir bewußt fachsprachendidaktische Überlegungen aus, weil in ihnen der prozeßlinguistische Aspekt selten konstitutiv ist. Ebensowenig kann man auf diesem Gebiet klassische allgemeine lerntheoretische Begriffe verwenden, da Fachsprachen typischerweise nicht im naiven Gebrauch (wieder-) entdeckt werden können, sondern immer vermittelt werden.

Es scheint dennoch sicher, daß der fachliche Wortschatzerwerb auf zwei verschiedenen Wegen vonstatten geht, dem impliziten und dem expliziten. Elementar scheint uns der Erwerb durch implizite Handlungseinbettung in Verbindung mit Zeigehandlungen oder referentieller Eindeutigkeit der Fach-Situation (Einzigkeit eines besprochenen Objekts):

Hier wird der Ansaugstutzen angesetzt
Leistentaschen hat man ja gern bei sportlichen Sakkos (erg. wie dem einzigen gerade vorliegenden)

(S.. 95)

Explizierungen solcher Existenzpräsuppositionen treten dann in vereinbarten direkten Lernsituationen auf. Explizite extensionale Definitionen entsprechen dann dem handlungsbezogenen impliziten Erwerb:
Das hier nennt man einen Junktor
Explizite intensionale Definitionen nach dem Schema Oberbegriff (genus proximum) und differenzierendes Merkmal (differentia specifica) stellen demgegenüber eine handlungsneutrale abstrakte Form des Terminologieerwerbs dar. Bei Begriffsleitern und klassifikatorischen Systemen ist das besonders günstig, da dann wiederum eine mnemotechnisch günstige Abbildung der Lernsituation in der Wortstruktur vorliegt.
Was ist denn eigentlich Punktsteuerung?
Das ist eine Steuerungsart für Werkzeugmaschinen, bei denen der Weg der Maschine zum Bearbeitungspunkt keine Funktion hat.
In den bisherigen Beispielen haben wir direkte (face-to-face) Instruktionssituationen als elementar beim Terminologieerwerb angesehen. Davon abgeleitet sind dann stellvertretende Erwerbssituationen mit den verschiedensten Lernmitteln, die Situationseindeutigkeit und Lehrdialoge simulieren (z. B. durch Bilder, Filme, Arbeitsaufgaben). Reflexe auf die o.g. Zeigehandlungen einerseits und intensionale Definitionen andererseits zeigen sich dann auch dort in den Varianten "beschrifteter Zeichnungen"
 
Abb. 11. Technische Zeichnung
 

und "definitionsorientierten Texten":  (S. 96)

Prätesteffekte:
Darunter wird die Auswirkung einer Testdurchführung auf eine weitere Testdurchführung verstanden. (Ipfling 1974, 105)
Von Verstehen von Fachwortschatz kann nur abgesehen von Erwerbsstrategien dann gesprochen werden, wenn der neue Terminus mit vorher bekannten in einen netzartigen Zusammenhang gebracht werden kann (J.Hoffmann 1979, Kluwe et al. 1982), so daß seine Stellung in der Fachsystematik und die Methode seiner Anbindung (Netzrelation) bekannt sind. Durch die Kenntnis der Umgebung (z. B. Hyperonyme, Hyponyme, Kohyponyme) und die Art der Beziehung (Unterbegriff von, Teil von, Exemplar von, Eigenschaft von etc.) kann dieses Wissen dann aktiv in Schlußfolgerungsketten eingesetzt werden.

Die Organisation von Wissen in solchen Netzen (Simmons 1970, Esser/Harnisch 1980, Wender et al. 1980) ist eine relativ plausible Theorie über Wissensstrukturen vor allem dann, wenn man von sog. partitionierten Netzen (Hendrix 1975) ausgeht. Durch Teilung von Netzen, die man sich als gerichtete bewertete Graphen (Perl 1981) vorzustellen hat, wird der ansonsten nur semantisch begrenzte Zugriff (logische Eigenschaften von Relationen wie Transitivität) eingeschränkt. Zugänglichkeitsgrenzen in den Netzen sorgen dafür, daß bestimmte Inferenzpfade abgetrennt bzw. nur für bedingten Zugriff freigegeben sind. So können Verträglichkeiten von widersprüchlichem Wissen beschrieben werden, indem man die (beiden) widersprüchlichen Einträge als zu zwei verschiedenen Netzgebieten gehörig ansieht, die aber keine gemeinsamen Konsistenzbedingungen haben.

Zurück zur Fachpraxis: Trotz exakten Wissens und strengen Definitionen sowie Bedingungen strenger Widerspruchsfreiheit in einzelnen Fachgebieten kann man einige Sachverhalte aus verschiedenen Blickrichtungen sehen, in verschiedenen Zusammenhängen verschieden beurteilen etc. Das kann auch der Fachmann offenbar dadurch, daß sein Wissen in nur in sich konsistente "Kontexte" aufgeteilt ist, und er sich bei einer Argumentation innerhalb eines Kontextes Widersprüche zu anderen Kontexten leisten kann.

Nachweise für Wissensorganisationsstrukturen sind bekanntermaßen relativ schwierig (vgl. zum Ganzen Minski 1968, bes. 227ff.  (S. 97)
sowie Norman/Rumelhart 1975 und Wender et al. 1980). Neben den experimentalpsychologischen Evidenzen kann man aber auch aus der linguistischen Analyse von Wissenserwerbsdialogen Rückschlüsse ziehen. Eine bekannte Verstehenssicherungstechnik ist etwa die Vergewisserungsrückfrage und die probeweise Anwendung z. B. in kontrafaktischen Konditionalen. Im ersten Fall werden oft Verbalisierungen einer Netzstruktur abgefragt:

Giraffenflügel, ah so, das ist also praktisch ein Piano, wie ein normaler Flügel, nur aufrecht?
Im zweiten Fall werden probeweise Schlußfolgerungen über den neuen Eintrag gezogen, um die Konsistenz des Wissens zu überprüfen:
closed shop ist dann also indirekt eine DV-Betriebsform?
Mit den dahinterstehenden Einträgen
  unter Benutzung der Transitivität der Oberbegriffrelation. Oder etwas komplexer:
Dann könnte man also auf dem Arpeggione die Baß-Gambenliteratur spielen?
Dahinter stehen Subnetzvergleiche über verschiedene Relationen (Oberbegriff, Eigenschaften).

Typisch ist die häufige Verwendung der Partikel also in solchen Rückfragen. Man darf daraus schließen, daß damit bewußt Schlüsse zur Überprüfung angeboten werden.

Besonders im lexikalischen Bereich hat sich eine ausgebreitete Diskussion über Exaktheit entzündet, der wir hier von einem linguistischen Standpunkt aus genauer nachgehen wollen. Dabei können wir nicht auf die ganze Breite des Exaktheitsproblems eingehen, zu dem auch schon Fluck (Fluck 1980, 180ff.) einen Diskussionsbeitrag geliefert hatte.
 


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