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(S. 42)

 
 

2.8  Das 19.Jahrhundert
 

Das 19.Jahrhundert, hier vielleicht treffender der Zeitraum von 1820 bis 1918, ist aus dern Blickwinkel der Geschichte der Fach- sprache gekennzeichnet durch ein

1850 sind etwa 1% der Beschäftigten in Deutschland im Tertiären Bereich tätig (Kellenbenz 1981,I,10S). Besonders dort, wo der direkte Zusammenhang zur Produktion nicht gegeben ist,  aber über Fachzusammenhänge verhandelt wird, ist die Notwendigkeit festgelegter schriftlicher Benennungen und Beschreibungen groß. Dies trifft zu etwa für die enorm anwachsende Wirtschaftsgesetz- gebung (z.B. 1845/48 Gewerbeordnungen, 1884 Einführung der GmbH), die neuen Aus- und Weiterbildungseinrichtungen (Grün- dung der Landwirtschaftsschulen/-hochschulen Weihenstephan, Hohenheim, 1825 Polytechnische Hochschule Karlsruhe) und den zentralen Ausbau von Versorgungs- und Versicherungswesen (seit 1883 Krankenkasse, Unfall-, Alters- und Invalidenversicherungen). Daneben wachsen die berufsständischen Vereinigungen (seit 1830 lösen Handelskammern die Zünfte ab) und Beratungsinstitutionen der Branchen. Seit Beginn des Jahrhunderts wächst die Zahl der "Wanderversammlungen" und ,Tage", die das später fest etablierte Kongreßwesen einleiten. Noch 1877 wird allerdings in Meyers Conversationslexikon (3. Aufl. Band 10) abschätzig geurteilt:
"Die Resultate dieser Versammlungen für das öffentliche Leben werden regelmäßig überschätzt; eine Förderung der Wissenschaft darf man von ihnen nicht erwarten, denn diese wird durch die Kunst Gutenbergs vermittelt".
Eine allgemeine Dilation ist die Folge weiterer Abstraktion der Fachkommunikation. Sie wurde eingeleitet Jahrhunderte früher
durch die Abstraktion von der Person (abnehmende Bedeutung der mündlichen Fachkommunikation und des persönlichen Briefs im frühen Mittelalter), vom Ort (Mobilität von fach(wissenschaft)lichen Schriften über den ganzen Sprachraum im späteren Mittelalter) und von der Zeit (Gründung der Naturwissenschaft auf Naturgesetze und allgemein gültige Regeln wissenschaftlicher Methodik).  Durch die vehemente Vergrößerung des Kornmunikationsnetzes ist aber eine starke zeitliche Dehnung (Dilation)des jeweiligen Kommunikationsprozesses eingetreten.

Die mittelbaren fachsprachlichen Prozesse nehmen in einem vorher nicht gekannten Maß zu, das Informationsangebot wächst gigantisch. Die 7 254 687 Besucher der WeltaussteIIung 1873 in Wien stehen vor 39 500 Ausstellern, gleichzeitig werden 12 Kongresse abgehalten. Auch die räumliche Weite der Fachkommunikation nimmt (S. 44) erheblich zu. Die Wichtigkeit englischer Literatur ist überwältigend, gegen Ende des Jahrhunderts kommt langsam Amerika hinzu; Deutschland erwirbt Kolonien mit einem bedeutenden Bedarf an Technologie, Wirtschaftsentwicklung und Organisation. Zwar wird gerade aus den ersten drei Jahrzehnten des Jahrhunderts eine ganz ungewohnliche Reiseaktivität von Deutschen nach Frankreich, aber vor allem nach England festgestellt. Es scheint allerdings eher so, als sei dies ein letzter Versuch, den direkten mündlichen Zusammenhang aufrechtzuerhalten, vor allem in einer Zeit, in der die Publikation noch nicht den steigenden Informationsbedürfnissen nachgekommen ist. Unter dem Stichwort "Fabriken und Manufakturen" bemerkt Meyers Conversationslexikon von 1870 (Band 6, S. 503):

"Die wesentlichste Scbranke, welche hier z. Zt. noch das vollständige Eindringen des Fabriksystems in das Handwerk hindert, ist der Mangel an Kommunikationsmitteln"
Gemeint sind hier zwar hauptsachlich Transportmittel, aber auf sprachliche Kommunikation läßt sich diese Beschreihung auch sinngemäß anwenden.

Die Postentwicklung stellt sich auf die "neue Zeit" ein. 1870 wird die Postkarte zugelassen, 1865 bereits die Postanweisung. 1876 umfaßt das Telegrafennetz in Deutschland 181 253 km Leitung. Über die 388 Büros werden in diesem Jahr 13 576 064 Telegramme übertragen.

Die EisenbahnentwickIung seit 1831 (Entwurf eines nationalen Eisenbahnprojekts durch List) bringt zusammen mit dem Automobilbau (seit 1885) erste technische Voraussetzunen (Treue 1970 b 504) für die Bewältigung der sich anbahnenden allgemeinen kommunikativen Dilation.

Streckennetz:
 
1840 1855 1860 1870 1875 1910
unter 50 km 7900 km 11331 km 16800 km 27800 km 59000 km

Beförderte Personen in Berlin (und Umgebung):

1866 13 Mio
1913 1235 Mio         (S. 45)

Das ist eine Steigerung fast um das hundertfache, während die Einwohnerzahl sich nur knapp versechsfachte. Es steht außer Zweifel, daß die starke Bewegung in solchen Zahlen auch eine Folge der beruflichen Distribution von fachlichen Texten, d.h. Zeitungen, Zeitschriften, Berichten, Akten oder durch die neugeschaffenen Arbeitsplätze auf dem Gebiet der Textmultiplikation (drucken, schreiben, abschreiben etc.) in Industrie, Handel und Gewerbe ist. Der Jahresverbrauch an Papier pro Kopf in Deutschland beläuft sich um 1870 auf 4kg. Die auf einer Handpresse herstellbaren 2000 Drucke pro Tag (durch 2 Arbeiter) werden als bei weitem zu wenig angesehen, so daß sich die "Schnellpressen" (erfunden durch Koenig 1812) in kurzer Zeit einführen.

Die Buchproduktion entwickelt sich wie folgt:
 
1570 1600 1618 1650 1700 1750 1800 1840 1850 1875 1900 1913 1927 1965
299 791 1293 725 951 1219 3335 6904 9053 12516 24792 34871 37886 27247 (BRD)

Nach Fächern gegliedert ergibt sich ungefähr folgende Verteilung (Meyers Conversationslexikon a. a. O. "Buchhandel")
 
Fach
 
1800
 
1840
 
1873
 
Wissenschaften (ohne Theologie) 35%  34,5%  34.4%
Wirtschaft 5,5% 4,1%  4,7% 
Lehrmittel 8,1% 8,6%  10,4% 
Technik 2,7% 5,4%  5,0% 

Zur Auffächerung und Nutzbarmachung der Literatur wird mit J. Petzholdts Bibliotheca bibliographica, Leipzig 1866 die erste Biblio-Bibliographie größeren Stils geschrieben.

Innerhalb der oben grob abgeteilten Gebiete hat sich im Laufe der Zeit eine ungeheuere Differenzierung eingestellt. Um 1870 nennt eine Wirtschaftsstatistik (Meyers Conversationslexikon, 1870. Stichwort "Gewerbestatistik") nicht weniger als 454 fachspezifische Typen von Fabrikationsstätten.


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