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2.6 Das 16. und 17.Jahrhundert
 
 

Es läßt sich charakterisieren als die Zeit der ersten fachsprachlichen Krise des Deutschen und zugleich der Ausweitung und Transformation seiner Textsorten. Zur Stützung dieser Aussage mussen wir etwas weiter in kommunikationstechnische und -geschichtliche Veränderungen der Zeit ausgreifen.

Die seit dem ausgehenden Mittelalter stark zunehmende Spezialisierung der Handwerke und Berufe (wir folgen in den wirtschafts- und technikgeschichthchen Aspekten Treue 1970a und Timm 1964), einhergehend mit der mehr lokalwirtschaftlichen Dimensionierung seit dem Niedergang Venedigs und danach der Hanse ITreue 1970a, 465ff. und die dort amgegebene Literatur), wird gleichwohl noch in den Organisationsformen der überschaubaren und eindimensionalen Werkstätten aufgefangen. Auch das Zunftwesen ist zunächst, was die fachliche Kommunikation angeht, noch vorwiegend mündlich organisiert.

Aber gerade diese mündliche und lokale Form fuhrt zu großen Schwierigkeiten, weil Kräfte der Abstraktion von der Speziallsierung und Lokahsierung von Arbelt mehr und mehr wirksam werden. Etwa ist die Erfindung und Entwicklung von allgemeiner benutzbaren Maschinen eine solche Gegenentwicklung (1560 verbesserte Drehbank, seit 16.Jahrhundert (Wasser-)Kraftmaschinen). Solche Maschinen produzieren erstmals kein Endproduk. Langsam wird in fortgeschritteneren Gegenden auch die Arbeit in einzelne Schritte zerlegt und verschiedenen Personen anvertraut. Die weiter entwickelte Buchhaltung erzeugt ihre Spezialliteratur z. B. Grammateus' (d.i. Heinrich Schreiber) "Buchhalten durch das Zornal, Kaps und Schuldtbuch auff alle Kauffmannschafft". Erfurt 1523, als Anhang eines kaufmännischen Rechenbuchs. Das Kapitel zur Errichtung größerer Betriebe ist nicht mehr fachgebunden und wird öfter auf Anteilschein-Basis beschafft (z.B. schon früh im  (S. 30)  Bergwesen). Wesentliche Verbesserungen kommen nicht mehr nur aus der Werkstatt-Praxis, sondern wieder mehr von allgemem technologisch orientierten Forschern (im 16. und 17.Jahrhundert zumal aus dem Ausland: Bacon, Descartes, Galilei, Harvey etc.). Es entsteht das Bedürfnis, über die Erfindungen überhaupt einen Uberblick zu gewinnen. So wird die Schrift "de inventoribus rerum" des Polydorus Vergilius schon 1537 auf deutsch gedruckt.

Diese Gesamtentwicklung fuhrt zu einem plotzlichen Kommunikationsbedarf, der nicht mehr persönlich mündlich abgedeckt werden kann. Wissen über neueste technisclie und wissenschaftliche Entwicklungen muß in großem Maßstab beschafft werden, ohne daß der Weg über das individuelle mündliche Anlernen gegangen werden muß. Der Buchdruck war die technische Voraussetzung, Art und Anlage der Schriften folgt dieser Dynamik. Besonders die technischen Bücher wandeln sich innerhalb von 80 Jahren. Das Beispiel aus dem Hüttenwesen (Treue 1970a, 462 dort genaue Nachweise) ist symptomatisch:

1480 Darstellung im "Hausbuch"
1505 Rulein von Kalbe "Bergbüchlein"
1518 ff. "Probierbüchlein"
1557 G. Agricola "Vom Bergwerk"
Parallel dazu verläuft die Geschichte des erzgebirgischen Hüttenwesens mit ihren aus dem Boden gewachsenen "Großbetrieben": 1470 werden Funde aus Schneeberg bekannt. Dann werden innerhalb kürzester Zeit Verlage, Hütten, Orte und Städte gegründet, bis gegen 1580 die Quellen ausgeschürft sind und vielfach eine Verarmung der Gegend einsetzt.

Solche Bücher zur Wissensübertragung sind zunächst recht zufallig und ohne systematischen Anspruch geschrieben, aber sie entstehen unter einem deutlichen Zwang zur Abstraktion. Ein schones Beispiel ist:
 

Erhard Weigel, Vorstellung der Kunst- und Handwercke / nebst einem kurtzen Begriff des Mechanischen Heb- und Ruest-Zeugs. Samt einem Anhang/welcher Gestalt so wohl der gemeinen Leibes=Nothdurfft / als des Gemueths-Wohlfarth und Gelehrsamkeit selbst / durch die Wissenschaft der Mechanischen Künste geholffen werden möge. Auf Veranlassung des im Mertzen dieses Jahrs erschienenen Neuen Cometen unmaßgeblich entworffen. Jena 1680.   (S. 31)


Ganz deutlich ist hier der Gedanke der Überschau und der verallgemeinernden Zusammenfassung ausgeprägt.

Betrachtet man vergleichend das Messewesen, so ist, etwa in Frankfurt/Main zu Anfang des 16.Jahrhunderts ein deutlicher Übergang von der kleingewerblichen Schau zur Großhändlermesse unter geringerer Berucksichtigung der lokalen Gewerbe, Maße, Gewichte, Valuten und Rohstoffe festzustellen. Deutlich wird das schon im Titel von

Lorenz Meders Handel Buch darin angezeigt wird, welcher Gestalt in den furnembsten Handelstetten Europe,allerhand Wahren anfencklich kaufft, dieselbig wieder mit nutz verkaufft, ... [Manuscript 1537, später öfter gedruckt].
In Leipzig wird dreimal im Jahr eine neugegründete international zu nennende Messe abgehalten. Die Bewältigung des Organisations- und Kommunikationsaufwandes ist nur schriftlich und in festen Formen möglich. Seit 1540 gibt es Börsen in Nürnberg und Augsburg, wo mit erheblichem Anfall an Schriftstücken Papiere gehandelt werden. Eine deutliche Stabilisierung im Geldverkehr brachte im 16 Jahrhundert die neu gegründete Hamburger Giro-Bank, eine Einrichtung, die ohne umfangreiche schriftliche Unterlagen keine Existenzgrundlage gehabt hatte.

Zwar wurden die Kommunikationsbedürfnisse gewiß durch den stark zur Geltung kommenden Buchdruck geweckt und gefördert (vgl. auch S. 25 f.). Aber es bleibt zu betonen, daß nach wie vor der Buchdruck zunächst vorwiegend im Dienste des Lateinischen steht (Bach 196S, §117 und die dort zitierte Literatur). l518 erscheinen insgesamt nur 150 deutsche Drucke. I519 sind es 260, gegen 1525 sind es schon rund 1000. Bach gibt für 1570 noch einen lateinischen Anteil von 70% an allen Drucken an. Der Buchdruck seinerseits wurde ab l554 in Meßverzeichnissen katalogähnlich zusammengestellt. Die deutschen Werke bilden zunächst nur einen Anhang. Der Aufschwung des Drucks hatte aber seinerseits wieder den Aufbau von Papiermühlen im Gefolge, dessen Entwicklung in Deutschland rapide ist: l502 entsteht die erste, um 1600 sind es bereits über 200. (S. 32)

Aber auch die landesherrliche Verwaltung und Nutzung der im Aufbau begriffenen Techniken (geschildert etwa in: Georg Andreas Böcklers "Theatrum machinarum novum. Schauplatz der mechanischen Künsten von Mühl- und Wasserwercken", Nürnberg 1661) brachten einen neuerlichen Kommunikationsschub. Man förderte Forschung und Wissenschaft, denn das Interesse an Technik und Wissenschaft gehörte zur gehobenen Attitüde. Die ersten wichtigen oeconomischen Schriften entstehen:
 

Hungers "Gärten uncd Pflanzungen mit wundersamer Zierd artlicher und seltsamer Verimpfung . . . Wes sich ein Hausvater mit seiner Arbeit das Jahr über alle Monat insonderheit halten soll" 1530 und

Johann Colerus' "Oeconomia oder Hausbuch" 1593 ff.

Solche Attitüde hatte überdies durchaus finanzielle Ergebnisse und wurde schon vor dem 30jahrigen Krieg eine auch militärisch notwendige Investition, da das technische Kriegsgerät und die abstrakten Organisationsfragen immer großeres Gewicht für den Stand eines Staats erhielten. Im Gefolge der Landesherren oder unter ihrem Schutz in privater Inititative arbeitend, entwickelte sich nach den Hausvätern dann die Gruppe der Kameralisten, mit einer pratechnologischen, stark Buch- und schriftorientierten, aber von konkreten Produktions- oder Handelsaufgaben abstrahierenden Mentalitat.

"Sie waren Volks- und Privatwirte zugleich, beamtete Berater der Fürsten, Lehrer künftiger Beamter, Verfasser von frühen, im Vokabular armen, im Ausdruck unbeholfenen Technologien und anderen Schriften, Polizeiwissenschaftler, erste Systematik anstrebende Land- und Forstwirte in einer von der unsystematischen und kleinräumigen ,Hausväterliteratur' beherrschten Zeit" (Treue 1970 a, 494).

Tvpische Vertreter waren etwa J.J. Becher mit seinem "Politischen Discurs, von den eigentlichen Ursachen des Auff- und Abnehmens der Staedt, Laender und Republicken", Frankfurt/Main 1668, später dann J. G. v. Justi.

Vor dem Hintergrund dieser oft noch immer diffusen Kenntnisse wurden von Landesvätern spater im 17.Jahrhundert z.B. Arbeitshäuser zur Eindämmung von Laster und Kriminalität eingerichtet. Daß deren wirtschaftlicher Erfolg meist gering war, spricht auch deutlich für die Langsamkeit, mit der solche Institutionen technische  (S. 33) Verfahren übernehmen konnten. Ein ähnliches Los hatten die früh "aus fürstlicher Liebhaberei, Großmannssucht oder Gewinnstreben" (Treue 1970 a, 458) gegründeten Manufakturen. Der fürstliche Dilettantismus, die für solche Aufgaben nicht vorbereitete Beamtenschaft und der zunächst durchaus noch provinzielle Charakter der Kameralisten-Literatur verurteilte die meisten dieser Manufakturen zum Scheitern. (Ein relativ gutes Beispiel einer auf Manufakturen bezogenen Literatur ist noch Daniel Krügers "Schola textoria nova" 1688, die, trotz des lateinischen Titels, deutsch abgefafst ist).

Gesehen wurde allerdings die Aufgabe einer ständigen Information über die Entwicklung der Technik in Europa (und langsam auch über die Ressourcen in Übersee). In sehr vielen Territorien setzte eine Reorganisation der Verwaltung und des Beamtentums ein, wodurch die ? meist schriftlichen ? Informationsformen und -wege festgelegt wurden. 1501 wird bei Froschauer in Augsburg herausgegeben: "Formulari vnd teutsch rhetorica wie man briefen und reden sol", Ende des Jahrhunderts sind schon feste Textformen in solchen "Briefstellern" vorhanden: "New Formular, Teutsch, Allerlei Schreiben, Als Instrument ... Sendbrieff, Anlaß, Compost, Testament …" (Humpert 1937, Nr. 12 497). Die Festlegung des "Dienstweges" ist eine bis in diese Zeit zurückverfolgbare informationstechnische Voraussetzung höherer Verwaltungsformen, die fest mit der Schriftlichkeit verbunden ist

In der Medizin entstehen schon zu Beginn des 16.Jahrhunderts die weit verbreiteten Schriften des Eucharius Röslein, der mit dem deutschen "Hebammenbüchlein" aber vor allem mit "Der schwangeren Frauen Rosengarten" Straßburg 1513 entscheidenden Anteil an der Ausbreitung einer deutschen medizinischen Fachsprache hat. Eine ebenso wichtige Stellung nimmt die "Groß-Schützener Gesundheitslehre" (vgl. Eis 960, 1188) ein, die 1525 auf dem Gebiet der Diatetik erscheint.

Die Medizin gibt den Anlaß, das erste deutsche gedruckte Fachvokabular zu verfassen: Laurentius Fries publiziert 1514 zu Straßburg die "Synonvma und gerecht usslegung der wörter so man in der arzney allen Kräutern zuschreibt". Später sind es die Schriften des Paracelsus, die Adam von Bodenstein zu seinem "Onomasticon, (S. 34) eigene Auslegung etzlicher Wörter und Praparierungen" (Basel 1578) veranlassen. Im Gefolge erscheint Leonhard Thurneyßer zum Thurns "Onomasticum oder Erklerung über etliche unbekannte Nomina", Berlin 1583.

In den Naturwissenschaften ist die deutschsprachige Mathematik des Adam Ries(e) "Rechnung auff der Linihen'' (1518) und "Rechenung auff der Linihen und Federn" (1522) als wichtigster und weittragender Impuls zu nennen. Albrecht Dürers "Underweisung der Messung mit dem zirckel und richtscheyt" (1525) sowie "Etliche underricht zu befestigung der stett, schloß vnd Flecken" (1527) und Joh. Keplers "Visierbüchlein" sind nennenswerte Beiträge zur Entwicklung der Fachsprachen.

Einen inhalichen  wie sprachlichen Markstein setzt 1511 Sebastian Virdungs "Musica getutscht", ein frühes eigenständiges deutsches Musikwerk (in Form eines Dialogs).

Nun wird dieser allgemeine Informationsbedarf freilich bei weitem immer noch nicht allein auf deutsch befriedigt. Die Wissenschaft soweit sie, sieht man von den quadrivium-Nachfolgern ab, an der Philosophie orientiert war, wurde nach wie vor lateinisch abgehandelt. Zwar erweitert sich im 17.Jahrhundert langsam der Anteil praktischer und angewandter Wissenschaft und wegen der Umsetzung in die Praxis damit auch der Bedarf an deutschen Schriften, das Experiment als wichtigste Methode der Naturwissenschaft steht in hohem Ansehen.

Davon wird aber die Dominanz des Latein zunächst nicht berührt. Paracelsus hält 1526 in Basel erste deutsche Vorlesungen; aber diese Tatsache ist ein krasser Einzelfall ohne breite Wirkung, der Versuch schlägt fehl. Insgesamt kann also von einer repräsentativen Breite des deutschen Fachschrifttums noch keinesfalls die Rede sein.

Die Breitenwirkung des Deutschen als Fachsprache wächst aber kontinuierlich, nicht zuletzt durch das allgemeine bürgerliche Interesse an der Natur: Seit 1623 werden "Naturforschende Gesellschaften" gegründet (Rostock, Nürnberg, Erfurt, Danzig, Hamburg, Schweinfurt), deren Kommunikation mit der Wissenschaft nicht nur durch ihre wissenschaftlichen Mitglieder und durch Vorträge, sondern auch durch die Herausgabe von Fachzeitschriften (S. 35) vonstatten ging. 1689 erschienenen in Leipzig die "Monatlichen Erzehlungen allerhand künstlicher und natürlicher Curiositäten", wenn auch zunächst nur für kurze Zeit, 1708 Joh. Gottfr. Meerheims "Discurs curiöser Sachen, insonderheit Hermetischer, Philosophischer, Physikalischer, Medizinischer und anderer Wissenschaften" ebenfalls in Leipzig. 1775 erschienen dann die ersten Monatsschriften der 1700 gegründeten Akademie zu Berlin.

Die wachsende Zahl technisch-naturkundIicher Erfindungen und Entdeckungen (der oben zitierte E. Weigel hatte schon seiner "Vorstellung der Kunst- und Handwerke" ein "Erfindungsregister" beigegeben) zieht eine weitere schriftliche Kommunikationsnotwendigkeit nach sich: Den Erfinderschutz und das frühe Patentwesen. In Kursachsen und vereinzelt im Reichsgebiet werden seit dem 16.Jahrhundert patentähnliche Schriften verfaßt, die erst 1815 zu einer allgemeinen gesetzlichen Regelung in Preußen führen.


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