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(S. 12)


2. Zur Geschichte der deutschen Fachliteratur


Die geschichtliche Entwicklung der Fachsprachen ist extrem ungleichmäßig untersucht. Liegen für das Mittelalter noch recht gute Beschreibungen einzelner Quellen sowie eine vorläufige Überschau (Eis 1960 sowie Assion 1973) vor, so ist für die frühe Neuzeit kaum etwas bekannt. Wir versuchen im folgenden, das aus verschiedensten Studien, oft nur Hinweisen, Erhebbare für eine gleichmäßigere Untersuchung auszubreiten. Den Charakter einer ausgewogenen Übersicht konnten wir dabei freilich nicht annähernd erreichen. Wir wollen nur einen ersten Schritt tun, gemäß unserer im Vorwort ausgedrückten Absicht, weniger Desiderate nur zu benennen, sondern Fortschritte zu versuchen. Trotzdem ist in weiten Teilen nur eine Geschichte der Bedingungen und Umgebungen von Fachliteratur zustande gekommen.

2.1 Anfänge

Der Beginn der Fachsprachen-Geschichte ist zwar in der sprachhistorischen Sekundärliteratur häufiger zu orten versucht worden, (Bach 1965, §§43, 53, 66) liegt aber dann meist im "vorliterarischen Dunkel" und ihr erstes Auftreten wird abhängig von wirtschafts-, technik-, und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen erschlossen.("Ohne Frage aber haben etwa die Schmiede bereits ihren eigenen der Allgemeinheit weniger vertrauten Wortschatz besessen, ebenso das Recht", Bach § 43).

Die Problematik solcher Versuche liegt vor allem darin, daß sich in ihnen zum einen die Definitionsfrage von Fachsprache in kaum (S.13)  aufzulösender Komplexität stellt und zweitens, daß solche Versuche über ihr Erkenntnisinteresse meist wenig Auskunft geben können. Darüber hinaus setzt man mit der Suche nach dem "Beginn" der deutschen Fachsprache durch die Kennzeichnung "Deutsch" in einen Zeitpunkt (500-800) ein, der zumindest technikgeschichtlich keinen Wendepunkt darstellt. Die Herausbildung handwerklicher Techniken liegt unangebbar weit zurück und sozialgeschichtlich läßt sich allenfalls die Bildung größerer politischer Einheiten (seit der Merowinger-Herrschaft) auch komrnunikationsgeschichtlich als neues Faktum werten. Allerdings ist dieser Einfluß bei genauerer Prüfung wohl nur zweitrangig gegenüber der sehr viel früher liegenden kommunikationsgeschichtlichen Wende der Völkerwanderung und dem traditionsgeschichtlich und im Blick auf die Schriftlichkeit viel weiterreichenden Faktum der Christianisierung.

Eher sinnvoll erscheint es, nach den ersten fachsprachlichen Quellen der deutschen Sprache zu fragen. G. Eis (Eis 1960) hat indes diese Frage bezeichnenderweise nicht gestellt. Denn auch diese Frage führt zu recht willkürlichen Daten und setzt in ein Kontinuum einen Terminus, dessen Verteidigung kaum gelingen kann. Nehmen wir etwa die Person Notkers des Deutschen (Labeo) (~ 950 - 1022): Zwar stellen seine Übersetzungen lateinischer Fachschriften einen bedeutsamen Punkt in der deutschen Literaturgeschichte dar, aber durchaus keinen Anfangspunkt. Einerseits sind uns gerade von Notkers Verdeutschungen nur die wenigsten erhalten, über ihre Existenz wissen wir nur durch seinen Brief an Bischof Hugo von Sitten (gegen 1015) Die erhaltenen sind andererseits nicht gerade typische Fachschriften.

So etwa die Schrift "de syllogismis", am ehesten fachsprachlich ist das Fragment "de musica". Gerade für diese beiden Schriften ist die Autorschaft Notkers aber nicht bewiesen, wenn auch wahrscheinlich.

Die kleine Schrift ,"de musica" umfaßt nicht einmal 2300 Wörter und seine Teile "de monochordo", "de octo tonis", "de tetrachordis", "de octo modis" und "de mensura fistularum organicarum" sind Fragmente, die wohl aus einem größeren verlorenen Werk stammen, (einer umfangreicheren Vorlage), vielleicht nicht einmal in diese Reihenfolge gehören. (S. 14)

Gerade was den Fachwortschatz angeht, so sind diese Fragmente aber fast ein Gegenbeispiel für den Beginn einer deutschen Fachsprache:
 

Uuizîn dârmite. dáz an démo sánge dero stimmo. échert síben uuéhsela sint. dîe virgilius héizet septem discrimina vocum únde díu áhtoda in qualitate díu sélba íst. sô diu êrista. Fóne díu sint án dero lîrûn. únde án dero rótûn îo síben seiten. (Piper, 1882, 853)


Der Text aus Notkers "de musica" (de octo tonis, Zeile 5-10) läßt den Schluß zu, daß die entscheidenden Fachwörter lateinisch benutzt wurden und nur der "Beitext" aus pädagogischen Gründen deutsch dargeboten wurde, (Sonderegger 1980). Die musikalische, d h. musiktheoretische Kunst als solche war eine lateinische Kunst, eine Tatsache, die sich für die musiktheoretischen Teile sogar noch bei Virdung 1511 nachweisen läßt.

Von einem Dokument deutscher Fachsprache zu reden, erscheint also als recht kühn, wir befinden uns durchaus noch in einer Übergangszeit, auch wenn wir vom Bestehen anderer, vielleicht weniger vom lateinischen abhängigen Fächer ausgehen.

Bachs Aussage, "um 800 wird im ahd. Isidor die geschriebene deutsche Sprache zum erstenmal für wissenschaftliche Zwecke angewandt" (Bach 1965, § 86) stellt die Sachverhalte auch entschiedener dar, als es der Glossencharakter, die damalige Auffassung von Wissenschaft und die zu vermutenden Gebrauchszusammenhänge derselben eigentlich zulassen.

Zurück zu Notkers Schriften. Wir dürfen nicht übersehen, daß die fachlich weitaus wichtigeren Schriften, z. B. seine Arithmetik, lateinisch abgefaßt waren und eine ganz starke hier auch nachweisbare Abhängigkeit von spätantiken Quellen zeigten. Diese Schriften stellen die überwältigende Mehrzahl dar.

Eggers (Eggers 1963, Bd. 1, 222) trägt hierzu einer wichtigen Gedanken bei, den er für die frühen deutschen Lehnwörter geltend macht, der aber in gleicher Weise für das Verhältnis vom Lateinischen zum Deutschen gilt: Bei den ahd. Schriftstellern bestehe eine auffällige Abneigung gegen alte Lehnwörter wie pflanzôn, fruht und andere. Eine Begründung dafür könne sein, daß diese Ausdrücke schon früh in eine Fachsprache der Gärtnerei, damit aber in den (S. 15) Sprachgebrauch des "einfältigen Bruders Gärtner in jedem Kloster" eingeflossen seien. Diese Verwendungsumgebung disqualifiziere aber solche Wörter für den Gebrauch in der "Sprache der Gebildeten in der Schreibstube".

Ganz sicher war auch die Latinität einer Terminologie ein Qualitätsausweis, und der Erfolg des Lernens einer Kunst konnte u.a. auch am Grad der Beherrschung der lateinischen Terminologie abgelesen werden. So wenig sich dabei soziologische Hirtergründe explizit nachweisen lassen, so sehr müssen wir mit ihnen rechnen, besonders mit der Außenkommunikation mit der zunächst ausschließlich an Klöster gebundenen Schriftlichkeit.

Notkers Stellung bei der Einführung von deutschen Fachtexten wird, besonders wenn wir den allgemeinen literaturhistorischen Kontext mitlesen, dadurch keineswegs geschmälert.

In der Zeit vor seinen Schriften ist die Überlieferung spärlich. In Frage kommen allenfalls die bei Eis (Eis 1960, 1184. Dort auch alle weiterführende Literatur.) genannten Basler Rezepte (um 800 in Fulda) gegen Fieber und krebsartige Geschwülste. Von diesen Texten dürften sehr viele ähnliche existiert haben. Erhebbar ist wegen ihrer gattungsmäßigen Nähe zu Segen und Zauber vorwiegend der Bestand an Krankheits- und Arzneinamen (Tiere und Pflanzen bzw. deren Teile).

Einen weiteren indirekten Weg kann man zur Erweiterung des fachsprachlichen Bildes gehen: Bei Einbeziehung der Glossen ergibt sich vom Material her ein wesentlich reicheres Bild als bei der Beschränkungauf vollständige Texte im eigentlichen Sinne. Diese sehr frühe deutsche lexikographische ,.Literatur" bildet zweifellos einige Ansatzpunkte für die Rekonstruktion der Lage der Fachliteratur insofern, als die Glossierungsaktivitäten etwa zu Isidors "de homine et partibus ejus" durch Walahfrid einer praktischen Notwendigkeit entsprungen sein müssen. Bei diesen vor 850 entstandenen Körperteil-Glossen wie auch bei den fachlich unspezifischen Glossen, die als .Abrogans" (790) und "Vocabularius Sti. Galli" (790/800) bekannt geworden sind, liegt die Vermutung nahe, daß sie bereits eine Art Wissenschafts-Vermittlungsprozeß darstellen. Zwar vermittelt hier nicht der Wissenschaftler sein Fachwissen selbst und schon gar nicht an nichtwissenschaftliche Laien (im (S. 16)  Gegensatz zu späteren Wissenschaftstransferprozessen), aber es wird fachliches Schrifttum einer veränderten sprachlichen und sachlichen Umgebung angepaßt:

Zum eigenen Gebrauch und zum Gebrauch anderer werden unbekannte Terminologie-Teile vermittelt, sei es, daß sie wegen der Komplexität des Sachgebiets unbekannt waren, sei es, daß es sich um einen nicht lebendigen spätantiken Traditionszweig handelte.

Einen anderen indirekten Weg geht G. Eis (Eis 1960,1113), indem er die Interpretation eines der ältesten literarischen Zeugnisse des Deutschen, nämlich des "Wurmsegens", an ein fachliches Hintergrundverständnis bindet. Manches wird dadurch klarer und die Eingliederung dieses Denkmals in eine fachliterarische Reihe, z. B der Arzneiliteratur, ergibt eine weitertragende Perspektive als nur die Sicht auf die altdeutsche Segen- und Zauberspruch-Gattung. Das Bestehen einer parallelen Fachsprache zu diesem Sachgebiet wird dadurch plausibel.

Aus dem 11.Jahrhundert liegen außer den Notker-Schriften dann noch eine Zahl von fachlich orientierten Schriften vor, unter denen ein Physiologus-Fragment (um 1070) und allenfalls geographisch Einschlägiges im "Merigarto" zu nennen ist; außerdem das sog. "Summarium Heinrici" (um 1010), in dem auch Fachwörter vcrkommen. Besonders diese Sammlung, die in Handschriften bis ins 16.Jahrhundert überliefert ist, verführt dazu, Aussagen über den Stand der mittelalterlichen Fachsprachen zu extrapolieren. Zweifellos sind die hier vorkommenden Fachwörter nicht aktuelle Neuschöpfungen, sondern gehen auf einen noch nicht aufgezeichneten Gebrauch zurück. Aber Umfang und Fächerbreite des damals an Fachsprache Vorhandenen ist nicht zu erschließen. Sicher geht das Material aber über das (oben zitierte) bei Bach (Bach 1965, § 43) genannte hinaus und erschöpft sich auch nicht in der bei Eggers immer wieder aufgeführten klösterlichen Gärtnersprache, (Eggers 1963, Band 1, 222).

Das von der literarischen Wirkung und der Gattung her interessanteste Zeugnis ist ohne Zweifel das Physiologus-Fragment, das aber nur ein kleiner Zweig des mächtigen literarischen Baums "Physiologus" ist, ein Traditionsbaum, der die ganze Spätantike und das Mittelalter überwölbt. An diesem Literaturwerk kann man manches (S. 17)  Allgemeine über das Wesen der Fachliteratur im Mittelalter studieren. Wir folgen hier, wie an vielen Stellen, wieder G. Eis (Eis 1960, 1115 f.):

"Den Einteilungsgesichtspunkt für diese Denkmäler (Fachschrifttum i.e.S., v.Hahn) liefert uns das mittelalterliche System der Wissenschaften oder?wie man damals sagte?"Künste". Wollte man neuzeitliche Gesichtspunkte zur Einteilung heranziehen, so müßte man dem Stoff Gewalt antun und käme trotzdem zu keiner befriedigenden Lösung. So wäre es z. B. ganz falsch, die mittelalterlichen Steinbücher als mineralogisches Schrifttum zu bezeichnen, denn das Mittelalter besaß noch keine Wissenschaft von den Mineralien um ihrer selbst willen."

Der Physiologus wäre als Zoologie ebenso gründlich mißverstanden. Zwar ist diese allegorische Darstellung "geglaubte Wirklichkeit" der Natur (De Boor 1962, 128/129), aber der Sinn des Textes ist ein theologischer. Sein Gegenstand ist primär die Mitteilung von kirchlichem Glaubensgut aus der Erlösungslehre und Moraltheologie.

Es ist daher nicht nur falsch, die neuzeitliche Wissenschaftsgliederung in das Mittelalter zurückzuprojizieren, sondern auch unzulässig, innerhalb der Artes-Hierarchie, z. B. unter "Rhetoriken" stets dasselbe in einer diachronischen Reihe von 1000 Jahren zu verstehen. Wie wir später noch zeigen werden (S.48 ff.), hat das vor allem erhebliche Konsequenzen für die Beurteilung von Textsorten und Quellen.

So kann der Physiologus durchaus als ein Text der Theorie über der praktischen Wirklichkeit angesehen werden, wenn auch die Theorie ganz anderer Natur war als spätere wissenschaftliche Theorien und - vor allem - auf ganz andere Art zustande kam.
 


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