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Stefan Frisch. Verb-Argument-Struktur, Kasus und thematische Interpretation beim Sprachverstehen. PhD thesis, University of Potsdam, 2000. [ .pdf ]

Abstract

Um vom Lesen oder Hören sprachlichen Materials zur Repräsentation eines Satzes zu kommen, müssen verschiedene sprachliche Informationen miteinander verknüpft werden. Eine zentrale Rolle bei diesem Prozeß spielen Verben mit ihrer Eigenschaft, andere Elemente (in der Regel Nominalphrasen) als Ergänzungen zu nehmen. Verben lassen sich nicht nur dadurch charakterisieren, wieviele Ergänzungen sie nehmen, sondern auch dadurch, ob deren Form (Kasus) aus der syntaktischen Struktur vorhersagbar oder durch idiosynkratische Verbeigenschaften determiniert ist (regulärer versus irregulärer Objektskasus). Neben den verbspezifischen Beschränkungen hinsichtlich Argumentanzahl und Kasus müssen die Ergänzungen darüber hinaus verbunabhängig verschiedene syntaktische Funktionen realisieren. Dabei spielt Kasus im Deutschen eine zentrale Rolle. Die Zuweisung der Argumente zu unterschiedlichen syntaktischen Funktionen ermöglicht deren unterschiedliche thematische Interpretation, setzt die Argumente also in unterschiedliche semantische Relation zu dem im Satz ausgesagten Ereignis.
Die vorliegende Arbeit hatte zum Ziel zu untersuchen, ob die soeben dargestellten Beschränkungen hinsichtlich der Zahl, Form und thematischen Interpretierbarkeit beim Sprachverstehen über eine Messung Ereigniskorrelierter Hirnpotentiale (EKP) qualitativ und quantitativ differenzierbar sind. Dazu wurden sechs EKP-Experimente durchgeführt, in denen Probanden visuell und wort- bzw. phrasenweise Satzkonstruktionen präsentiert bekamen, in denen obige Beschränkungen nicht erfüllt waren. Fragestellungen und Ergebnisse der Experimente sind im folgenden kurz zusammengefaßt.

Eine Inkompatibilität zwischen der Anzahl der Argumente in einem Satz und der Anzahl der im Lexikoneintrag des Verbs spezifizierten Argumente führte im EKP zu einem konsistenten N400- P600-Effekt. Die N400 reflektiert die semantischen Integrationsprobleme, die eine solche Verletzung mit sich bringt. Demgegenüber geht die P600 auf den Umstand zurück, daß eine syntaktische Struktur nicht durch die Verbinformation lizenisert wird (vgl. Friederici 1995).
Das biphasische N400-P600-Muster für Stelligkeitsverletzungen trat in Passiv-, in transitiven Aktiv- und in ditransitiven Aktivstrukturen auf. Es war nicht davon abhängig, ob es sich bei dem nicht-integrierbaren Argument um einen Nominativ, einen Akkusativ oder einen strukturellen Dativ handelte. In ditransitiven Strukturen zeigten Sätze mit nicht-integrierbarem Dativ im EKP keinen anderen Effekt als Sätze mit nicht-integrierbarem Akkusativ. Es gibt keine Hinweise dafür, daß sich die zahlreichen Möglichkeiten freier Dative im Deutschen auf die EKP-Effekte auswirken.
Eine N400 für die mit einer Stelligkeitsverletzung verbundenen semantischen Integrationsprobleme trat nur dann auf, wenn keine zusätzliche Phrasenstrukturverletzung vorlag. Dies zeigt, daß die Anwendung von Verbinformation im Prozeß der Sprachverarbeitung dem Aufbau einer der einzelsprachlichen Grammatik entsprechenden Phrasenstruktur funktional nachgeordnet ist. Dieses Ergebnis stützt Modelle, nach denen Verbinformation eine post-initiale Filterfunktion innehat (Frazier 1987c; Mitchell 1987). Die N400 infolge einer Stelligkeitsverletzung korrelierte nicht mit zusätzlichen Plausibilitätsvariationen im korrekten Rest der Sätze. Sie kann alleine als Folge der Nicht-Integrierbarkeit des kritischen Arguments angesehen werden.
Die P600 als Indikator des bei einer Stelligkeitsverletzung lexikalisch induzierten Reanalyseprozesses war kleiner, wenn das nicht-integrierbare Argument nach dem lizensierenden Verb kam, als wenn das Verb auf ein bereits verarbeitetes, aber nicht-integrierbares Argument folgte. Dieser Unterschied konnte unter Rückgriff auf das Prinzip der right edge availability (Abney 1989; Gorrell 1999) erklärt werden. Nach diesem Prinzip kann eine Reanalyse leichter am aktuellen Input vorgenommen werden als an einem zurückliegenden, strukturell bereits integrierten Element.
Stelligkeitsverletzungen waren im EKP dissoziierbar von Verletzungen, die auf der Basis anderer Arten von Verblexikoninformation evoziert wurden, nämlich von semantischen Verletzungen sowie von Verletzungen aufgrund von subkategorisiertem Kasus. Semantische Verletzungen riefen immer eine N400 hervor. Wenn sie außerdem noch eine P600 evozierten, dann war diese kleiner als bei syntaktischen Verletzungen. Verletzungen auf der Basis von subkategorisiertem Kasus riefen keine N400-Effekte hervor, sondern eine links-lateralisierte Negativierung (LAN) und/oder eine P600, also Effekte, wie sie in der EKP-Literatur üblicherweise für einen Mismatch syntaktischer Merkmale berichtet werden.
Während Verletzungen auf der Basis von subkategorisiertem Kasus keine N400-Effekte evozierten, kam es bei Strukturen mit zwei identisch kasusmarkierten Argumenten zu einer N400 gefolgt von einer P600. Diese N400 geht auf den Umstand zurück, daß die identische Kasusmarkierung zweier Argumente die syntaktische und damit thematische Interpretation eines Satzes problematisch macht. Die nachfolgende P600 ist Ausdruck der Tatsache, daß identisch kasusmarkierte Argumente um dieselbe grammatische Funktion konkurrieren, was ihre Integration in eine Phrasenstruktur verhindert.
Anders als bei Stelligkeitsverletzungen bestehen bei Doppelkasusverletzungen die Interpretationsprobleme nicht in einem zahlenmäßigen Mismatch zwischen der Anzahl der Argumente und der thematisch-syntaktischen Verbergänzungsinformation. Vielmehr können die Argumente aufgrund ihrer identischen Kasusmarkierungen nicht mehr thematisch hierarchisiert werden, so daß in diesen Sätzen unklar ist, wer was mit wem tut. Diese thematischen Interpretationprobleme in Form einer N400 traten auch in NP-NP-VStrukturen auf, also auch dann, wenn das Verb auf seine Argumente folgte. Die Probleme waren somit unabhängig davon, ob überhaupt thematische Verbinformation vorlag. Sie wurden allein durch die (identischen) Kasusmerkmale der Argumente induziert.
In NP-V-NP-Strukturen rief ein zweiter Nominativ eine schwächere und spätere N400 hervor als ein zweites akkusativmarkiertes Argument. Ein doppelter Nominativ war in diesen Strukturen also zumindest initial besser zu interpretieren als ein doppelter Akkusativ. Dieser Unterschied wurde damit erklärt, daß das intervenierende Verb die Subjektlesart für einen initialen Nominativ qua Subjekt-Verb-Kongruenz stützt und die Erwartung für ein Objektargument erhöht. Aufgrund der geringeren Markiertheit des Nominativs als Default-Kasus gegenüber dem Akkusativ ist der nominativische Kasus eines zweiten Arguments nicht salient genug, um die Erwartung zu durchbrechen. Der entscheidende Einfluß des Verbs zeigt sich darin, daß sich keine N400-Unterschiede zwischen doppeltem Nominativ und doppeltem Akkusativ NP-NP-V-Strukturen fanden, in denen das Verb auf die beiden Argumente folgt.

Zusammengenommen zeigen die experimentellen Ergebnisse, daß Ereigniskorrelierte Hirnpotentiale (EKP) für die Erforschung der menschlichen Sprachverarbeitung eine äußerst fruchtbare Untersuchungsmethode bieten. Mit ihrer Hilfe lassen sich die Verarbeitungsprozesse näher beschreiben, die bei der syntaktischen und thematischen Interpretation von Argumenten ablaufen, unabhängig davon, ob sie auf Verblexikoninformation basieren oder auf den overten Kasusmarkierungen der Argumente.

 
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