Anfänge der Fachsprache

Der Beginn der deutschen Fachsprache liegt sicherlich weit vor der Schriftlichkeit. Man kann versuchen, ihn zu bestimmen durch
  1. einen sozialgeschichtlichen Zeitpunkt der Trennung von Arbeit und Interaktion, damit der Trennung von Gemeinsprache und Fachsprache, oder
  2. einen technikgeschichtlichen Zeitpunkt des Entstehens von isolierten Fächern und des Beginns von Lehre und Ausbildung, damit der Entstehung einer Fachterminologie

Beide Versuche sind problematisch, da sie den Primat oder überhaupt das Vorhandensein der Gemeinsprache voraussetzen, von der sich die Fachsprache abgetrennt hätte.

statt dessen: Aussichtsreicher erscheinen Fragen nach der Entstehung der deutschen Fachliteratur und damit die beiden Fragen:

Diesen Fragen soll in der Vorlesung primär nachgegangen werden

Auch diese Frage ist aber nicht klar zu beantworten, da sicher die größte Zahl der Schriften aus der Frühzeit verloren gegangen ist. Wir wissen zum Beispiel von einer großen Zahl fachlicher Schriften aus der Hand von Notker dem Deutschen (ca 950 - 1022), die er in einem Brief an Bischof Hugo von Sitten erwähnt.




Die Entstehung deutscher Fachtexte

Die früheste erhaltene auf deutsch geschriebene fachliche Schrift ist:


Notker (Labeo) der Deutsche: "de musica"

Es ist eine kleine Schrift mit knapp 2300 Wörtern. Sie ist wie folgt gegliedert

Vermutlich sind das Teile (in dieser Reihenfolge?) einer größeren verlorenen Schrift. Die wichtigeren Fachtexte von Notker, z.B. seine Arithmetik, sind alle lateinisch geschrieben.




Frühe lexikalische Quellen

Glossen:

Frühe Rezepte (Basler Rezept um 800 in Fulda) mit Pflanzen- und Tiernamen.

Pragmatisch gesehen liegt hier Fachsprache im Sinne von Wissenschaftsvermittlung vor.




Zum Wesen der Fachsprache im Mittelalter

"Den Einteilungsgesichtspunkt für diese Denkmäler liefert uns das mittelalterliche System der Wissenschaften oder - wie man damals sagte, "Künste". <
Wollte man neuzeitliche Gesichtspunkte zur Einteilung heranziehen, so müßte man dem Stoff Gewalt antun und käme trotzdem zu keiner befriedigenden Lösung. So wäre z.B. ganz falsch, die mittelalterlichen Steinbücher als mineralogisches Schrifttum zu bezeichnen, denn das Mittelalter besaß noch keine Wissenschaft von den Mineralien um ihrer selbst willen."

(G. Eis in Dt.Phil.1115)




Das System der Künste

  1. Freie Künste:
  2. Unfreie Künste:





Andere für die Geschichte der Fachsprache in Frage kommenden Quellen des 11. Jahrhunderts sind:

Der Physiologus ist eine allegorische Interpretation der Wirklichkeit, die heilsgeschichtliche Kategorien zum Gegenstand hat, keine wissenschaftliche Erkundung.

Ansonsten ist 99,9 % der Fachliteratur zu dieser Zeit lateinisch.




Deutsche Fachliteratur des 12. Jahrhunderts

Ansonsten ist 99,9 % der Fachliteratur lateinisch




Deutsche Fachliteratur des 13. Jahrhunderts

Mainzer Landfriedensgesetz von 1235 in zwei gleichberechtigten Fassungen, deutsch und lateinisch

Hintergrund:

- Die "Frühe Renaissance" des Friedrich II schafft neben erhöhter Bedeutung der Wissenschaften eine stark vergrößerte Verwaltungsstruktur, die in Europa seit dem Hellenismus verloren war.

- Albertus Magnus macht Aristoteles und dessen naturwissenschaftliche Schriften wieder bekannt. Albertus schrieb aber nur lateinisch.

Das Satzungsbuch A der Stadt München 1295 - 1350 ist ein sehr frühes Zeugnis eines in der Praxis verwurzelten originalen deutschen Fachtextes, gegenüber früheren Texten, die meist theologische oder andere (lateinische) Werke referierten.

Ansonsten ist 98% des Fachschrifttums lateinisch




Deutsche Fachliteratur des 14. Jahrhunderts

Im übrigen ist 90 % der Fachliteratur lateinisch. Lateinisch-deutsche Vokabularien bestätigen den Primat des Lateinischen




Deutsche Fachliteratur des 15. Jahrhunderts

Es entstehen zahlreiche Schriften über Interessante Entwicklungen:

- In der Schrift über "Gebrannte Wasser" stellt Kaspar Griessenpeckh die Wirkungen der Branntweine in Tabellenform dar,

- Übersichten über ganze Handwerke werden ausgearbeitet: Nürnberger Baubücher von 1441 mit Zusammenstellungen über

Hintergrund:






Der "fachsprachliche Boom" im 16. und 17. Jahrhundert

Hintergrund:

Starke Spezialisierung der Handwerke und Partikularisierung der Wissenschaften. Erweiterung der regionalen Handwerks- und Wirtschaftsstruktur in großem Maßstab und damit wachsendes Bedürfnis nach schriftlichen Kommunikationsformen.

Entstehen der Messeliteratur:
Lorenz Meders Handel Buch, darin angezeigt wird, welcher Gestalt in den fürnembsten Handelstetten Europe, allerhand Wahren anfencklich kaufft, dieselbig wieder mit nutz verkaufft ...werden ... 1537

Hausväterliteratur:
Hunger, Gärten und Pflanzungen mit wundersamer Zierd artlicher und seltsamer Verimpfung ... Wes sich ein Hausvater mit seiner Arbeit das Jahr über alle Monat insbesondre halten soll. ... 1530"




Die Kameralisten

"Sie waren Volks- und Privatwirte zugleich, beamtete Berater der Fürsten, Lehrer künftiger Beamter, Verfasser von frühen, im Vokabular armen, im Ausdruck unbeholfenen Technologien und anderen Schriften, Polizeiwissenschaftler, erste Systematik anstrebende Land- und Forstwirte in einer von der unsystematischen und kleinräumigen «Hausväterliteratur» beherrschten Zeit"
(Treue 1970)




Weitere Entwicklungen in der deutschen Fachliteratur im 16. und 17. Jahrhundert

Starkes Anwachsen der seriösen medizinischen Literatur:

Dazu Terminologie-Wörterbücher:

Die Dominanz des Latein ist noch nicht gebrochen: 1526 hält Paracelsus in Basel die erste deutsche Vorlesung. Das bleibt aber ein krasser Einzelfall.

Es bilden sich naturforschende Gesellschaften, die u.a. als Herausgeber von frühen Fachzeitschriften auftreten

1700 wird die Akademie in Berlin gegründet.




Einige Beispiele der damaligen Fachtexte

Ein etwas originelles Beispiel: Virdungs Musica getutscht von 1511:

Dagegen halte man ein ganz alltägliches Dokument aus dem Inventarbuch der Stadt Augsburg von 1548:

Der Text lautet im unteren Teil:

Hernach folgt wie man allen wergzeug geschatzt hat. Item ein Zau mit zweien Kammen. zwai Spulrader, zwu spuln, zwen spulstock, zwen Leiff vnnd funff mulltern vmb funff gullden. Item Vierunddreissig kammen sechs vmb ain gullden thut zusammen funff gullden funff pfunt vnnd achtzehen pfennig. Item drei kemmstatt mit samt Irer Zugehorung vmb ain gullden. Item zwu wag mit sampt zweien hanngeißen vmb drei Pfennig. Item ailf Krachen mit den spennen vmb anderthalben gullden. Item drei Roßlein. drei kartetschen stull mit sampt dreien stulen vmb ain gullden. Item drei par kammen die pesten vmb einen halben gullden. Item vier par ...

Sehr bekannt dagegen: Das Rechenbuch von Adam Riese, das in der hier gezeigten Fassung so betitelt ist:
Adam Risen Rechenbuch /auff Linien und Ziphren in allerley Handthierung / Geschäfften vnnd Kaufmannschafft. Frankfurt 1574

Schmuckvoll, weil offiziell: Ordnung und Satzung wie es under einem Erbaren Handtwercke deren von Webern allhie gehalten. Augsburg 1659

Sehr praktisch und fast enzyklopädisch mutet an:

Erhard Weigel, Vorstellung der Kunst und Handwercke nebst einem kurtzen Begriff des Mechanischen Heb= und Rüstzeugs. Jena 1680

Die Überschrift dieser ersten umfangreicheren Handwerksbeschreibung von Erhard Weigel von 1680 zeigt deutlich den zusammenfassenden Anspruch der Kameralisten.




Die Rolle der Schriftlichkeit

Schriftliche Fachkommunikation hat keinen "Sitz im Leben"




Einige historische Randbedingungen für schriftliche Fachkommunikation






Das 18. Jahrhundert

Durch den Übergang vom Verlag zur Manufaktur entsteht die Notwendigkeit der schriftlichen Fixierung technologischen Wissens.

"Unter dem Worte Manufaktur ist man gewohnt, diejenigen neueren Waaren zu verstehen, welche von Privatpersonen, die nicht unter Zünften stehen, verfertigt werden, und wozu merenteils ein Kaufmann den Verlag hergibt, die Aufsicht führt, und daraus derselbe den Nuzzen für seine Person zieht. Hierher gehören die Materialien der Seide, Baumwolle, des Flachses u.s.w. Sobald man aber das Feuer und den Hammer zu den Metallen gebraucht, bekommen dergleichen Privatanstalten den Namen einer Fabrike"

Joh. Sam. Halle 1761




Wichtige Entwicklungen im 18. Jahrhundert

Ökonomie ist seit 1727 wissenschaftliches Fach an der Universität Halle, 1777 führt J.J. Beckmann die Technologie als wissenschaftliches Fach in Göttingen ein.

Die Chemie löst sich von der Alchimie und etabliert seit etwa 1750 die erste deutsche Fachliteratur und Industrie.

Die erste deutsche Fachbibliographie entsteht:
"Georg Heinrich Zincke, Cameralisten-Bibliothek, worinne nebst der Anleitung, die Cameralwissenschaften zu lehren und zu lernen, ein vollständiges Verzeichnis der Bücher und Schriften von der Land- und Stadt-Oeconomie ... zu finden ...". Leipzig 1751




Die deutsche Enzyklopädie-Bewegung beginnt:






Frühe Reflexion über Fachsprache

Die lexikalische und kommunikative Reflexion der Fachsprachen setzt ein, natürlich noch auf prälinguistischem Niveau.

Motivation für Fachliteratur bei Jacobsson:

"Die Ursache, warum sich einige Schriftsteller verschiedener Nationen die Mühe gegeben haben, genaue Beschreibungen der mechanischen Künste und Handwerke zu machen, ist wohl hauptsächlich diese, daß ... Gelehrte ... sich nicht allein einen vollständigen Begriff von den verschiedenen Arbeiten ... machen können, sondern auch die Sprache der Professionisten verstehen lernen; denn es ist bekannt, daß wenn man ein Zuhörer eines Gesprächs einiger Professionisten ist, welches sie von ihren Beschäftigungen führen, man dasselbe fast gar nicht verstehen, oder aus dem Zusammenhang desselben sich keinen rechten Begriff machen kann. Sie gebrauchen nemlich Redensarten, welche außer ihnen niemand versteht, folglich ist man auch niemals im Stande, von den Dingen, von denen unter ihnen die Rede ist, sich eine deutliche Vorstellung zu machen"

Aus: J. J. G. Jacobsson, Schauplatz der Zeugmanufakturen in Deutschland, das ist: Beschreibung aller Leinen= Baumwollen=, Wollen= und Seidenwürcker= Arbeiten, vornehmlich wie sie in den Königlich-Preußischen und Churfürstlich-Brandenburgischen Landen verfertigt werden. Berlin 1773-76, Band I, Seite VIII

Fachterminologie bei Beckmann

"Keine Wissenschaft, nur die Naturkunde ausgenommen, hat mehrere und mannigfaltigere Gegenstände, und eben deswegen eine größere Menge Kunstwörter, als die Technologie ... Zudem wird die Zahl dieser meistens sehr willkürlich gemachten Wörter noch durch Synonymen und Provinzialwörter vermehret, die nicht selten dem erfahrendsten Kenner unverständlich sein können.... Schriftsteller der Naturkunde finden es gemeiniglich bequemer, sich selbst eine Eintheilung der Naturalien zu entwerfen, und selbst neue Namen zu machen, als das beste vorhandene System verstehen und längst angenommene Benennungen brauchen zu lernen; aus gleicher Ursache werden der Technologie von Zeit zu Zeit neue unnütze Kunstwörter von Schriftstellern und Übersetzern aufgedrungen, welche die richtige Terminologie nicht haben erlernen mögen."

"Aber wenn auch der fleißigste Lexicograph alle zugängliche Werkstellen ausgefragt und alle vorhandene Bücher ausgeschrieben hat, wie wird es ihm möglich sein, die zahllose Menge der Provinzialwörter aufzufangen, die noch kein Idioticon gesammlet hat. Wie sehr wird ihm die Arbeit durch die fehlerhatte Aussprache der Künstler, durch die noch von keinem Grammatiker bearbeitete Etymologie und Orthographie derselben vervielfältigt."

(Beckmanns Vorrede zu Jacobssons technologischem Wörterbuch von 1781, Band 1, S. 6 und 7).




Kurios: Die Widmung Halles

Andererseits waren diese Werke alles andere als wissenschaftliche Arbeiten, sondern professionsgebundene und (geldbringende) Nebentätigkeiten. Man vergleiche die Widmung von Joh. Sam. Halle, Werkstäte der heutigen Künste ... Brandenburg 1761-79:

Ew. Hochwürden, und Hochwohlgebohrnen erleuchtete Talente,
auch für dieses Fach der Kenntnisse,
leisten der lesenden Welt die Gewähr,
daß ich wenigstens in der Wahl der Materie nicht ganz unglücklich gewesen!
Wie sehr wünsche ich nur dieselbe so ausgeführt zu haben,
daß Ew. Hochwürden, und Hochwohlgebohrnen mit Dero gnädigem Blicke
diese kleine Schrift zu beehren, geruhen möchte,
um derselben Einen, von Dero großmüthigen Huldblicken zu zuwerfen,
die den Charakter von Dero Herzensgüte mahlen.
Ich schätze mein Glück vollkommen,
wenn ich die Erlaubnis erhalte, für das unveränderte Wohl Dero hohen Hauses,
mit einem ewig dankklopfenden Herzen, zu Gott zu beten,
und mit der tiefsten Verehrung Dero hoher Verdienste,
unter den menschenfreundlichen Schutze eines hohen Gönners, zu ersterben,
als Ew. Hochwürden, und Hochwohlgebohrnen.
Meines Gnädigen Herren Geheimen Oberfinanzraths, und Oberhoftbau Intendanten,
untertänigst gehorsamster Diener, J. S. Halle
Berlin, den 29sten Januar 1788





Trotz Manufakturen immer noch zünftige Organisation

Ein Zeugnis späten Zunftwesens ist:
Anweisung und Ordnung für die sieben Beschaumeister an der Rohgeschau. Augsburg ca 1780






Der Beginn unbeabsichtigt unverständlicher Fachtexte

Die Fachtexte, die nun verstärkt in einer Fachsituation zur "Innenkommunikation" entstehen sind, wie es erst später typisch wird, für Außenstehende nahezu unverständlich:

Erklärung dieses Musterbildes aus:
Joh. Mich. Kirschbaum, Neues Bild- und Musterbuch ...Heilbronn 1793

Erklärung
Nro. 1. und 2. sind zehenschäftig.
Nro. 3. bis 20. sind achtzehn Stück fünfzehnschäftige leichtheilige Muster
Nro. 21. ist fünfzehnschäftig und schwertheilig
Nro. 22. und 23. sind zwey gebrochene und gesteinte leichtheilige sechszehnschäftige Muster
Nro. 24. ist ein gebrochenes und gesteintes schwertheiliges sechszehnschäftiges Muster
Das l unten an den Zügen bedeutet die Schaft bey der Lade, und das b an der äussern oder obern Linie der Züge den Garnbaum. Denn bey der Schnürung ist das l das erste Theil gegen der Lade, und das b das hindere Theil gegen dem Garnbaum und zwar in allen leicht- und schwertheiligen Zügen.
Wo ein Zug einen besonderen Tritt hat, so bedeutet das r oben im Tritt die rechte Seite, und das l unten die linke Seite der Schemmel.






Ein Fachbuch des 19. Jahrhunderts

Dagegen ein Fachbauch des 19. Jahrhunderts:

Carl Karmarsch, Handbuch der mechanischen Technologie. Hannover 1841